Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Schlaflos in Berlin
Politiker schleppen sich krank und müde in Koalitionsverhandlungen – keine gute Ausgangsposition.
BERLIN Martin Schulz hätte eigentlich ins Bett gehört. Den SPD-Chef plagten Schüttelfrost, ein grippaler Infekt, Übermüdung. Aber eine Auszeit war nicht drin. Der SPDParteitag in Bonn vorigen Sonntag verlangte nach einem kraftvollen Auftritt. Schulz sollte die Genossen davon überzeugen, dass sie den Weg für Koalitionsverhandlungen mit der Union frei machen. Während er sprach, meinte man die Gedanken von SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles an ihrem Gesicht ablesen zu können: So wird das nichts. Schulz war kraftlos. Gewendet hat den Parteitag dann vor allem Nahles mit einer fetzigen Rede. Noch wenige Tage zuvor wäre ihr das aber kaum geglückt, weil sie bis zur Stimmlosigkeit heiser war. Ebenso die CDUVizevorsitzende Julia Klöckner und die CSU-Unterhändlerin Dorothee Bär. Sie alle ringen seit der Bundestagswahl um die richtige Ausrichtung ihrer Parteien.
Die letzte Runde der Sondierungen endete am 12. Januar nach 26 Stunden. Danach machten sich die meisten der Unterhändler nahtlos an ihr Tagwerk. Gestern haben die Koalitionsverhandlungen begonnen. Vor Karneval sollen sie beendet sein. Nachtsitzungen garantiert.
Der Schlafforscher Hans-Günter Weeß sagt unserer Redaktion: „Wenn wir dauernd zu wenig schlafen, wird unser Immunsystem geschwächt, und in der Folge sind wir für Infekte anfälliger. Wir benötigen Schlaf aber auch, um wach und leistungsfähig zu sein. Jedes Kind weiß das: Schlaf macht wach.“Viele Politiker brüsteten sich aber damit, wie wenig Schlaf sie benötigten. Weeß mahnt: „Wenn wir 17 Stunden wach sind am Stück, haben wir motorisch gesehen ein Reaktionsvermögen, das einem Alkoholwert von 0,5 Promille entspricht. Und wenn wir 22 Stunden wach sind, haben wir ein Reaktionsvermögen von 1,0 Promille.“Demnach waren am 12. Januar die GrokoUnterhändler allesamt betrunken. Es sei bekannt, dass im Zustand der Übermüdung die kognitive Fähigkeit nachlasse und ethisch-moralische Grundsätze verblassten, erklärt Weeß. „Salopp gesagt, man will nur noch eines: ins Bett. Macht doch, was ihr wollt!“Man könne auch auf die Idee kommen, dass sich sozialdemokratische Entscheider am 12. Januar in
Hans-Günter Weeß einem solchen Zustand befunden hätten. „Denn als sie wieder wach waren, haben sie gemerkt, dass die Ergebnisse eigentlich nicht ihren Vorstellungen entsprechen.“Es setze sich doch nachts um drei Uhr nicht unbedingt durch, wer die besseren Argumente, sondern wer das bessere Stehvermögen habe.
Bundeskanzlerin Angela Merkel verhandelt bekanntermaßen gern bis zur Erschöpfung der anderen, um Kompromisse zu bekommen, die ihr recht sind. Sie selbst schreibt sich „kamelartige Fähigkeiten“zu, durch die sie lange ohne Schlaf auskomme. Weeß rät für die Koalitionsverhandlungen: Entscheidungen im wachen und nüchternen Zustand treffen, nachts schlafen, keinen Alkohol trinken, sich gesund und leicht ernähren und lieber etwas mehr Zeit lassen. „Aber dann tragfähige Entscheidungen für Deutschland treffen.“
„Wenn wir dauernd zu wenig schlafen, wird unser Immunsystem
geschwächt“
Schlafforscher