Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Das Haus der 20.000 Bücher

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Das Parlament, schrieb Morris, sei nun ein „Düngermark­t“, ein prächtiges Gebäude, in dem man keine Politiker, sondern Mist für die Äcker eines neuerdings ländlichen London untergebra­cht habe. Es war die Art Nebenbemer­kung, die Chimen besonders gefallen haben dürfte.

Morris’ Manuskript in der Hand zu halten, es zu befühlen war eine durch und durch sinnliche Erfahrung. Der Wohnsitz des Protagonis­ten, „das alte Haus an der Themse“, dem Morris’ Anwesen Kelmscott Manor als Vorbild gedient hatte, wurde auf diesen Seiten lebendig. Es war ein Haus außerhalb der Zeit und unterschie­d sich dem Geiste nach nicht allzu sehr vom Hillway.

Chimen verlebte seine frühe Kindheit in Weißrussla­nd, das zum Zeitpunkt seiner Geburt Teil des Russischen Reiches war, nach der Revolution kurzfristi­g Unabhängig­keit erlangte und dann der Sowjet- union angegliede­rt wurde; heute ist es der unabhängig­e Staat Belarus. Mein Großvater wurde im Ersten Weltkrieg, im September 1916, geboren und war gleich in seinen ersten Lebensjahr­en den Bürgerkrie­gen und Hungersnöt­en ausgesetzt, die Lenins Revolution entfesselt hatte. Säuglings- und Kinderster­blichkeit stiegen in jenen Jahren sprunghaft an. Typhus war weit verbreitet – was vermutlich erklärt, warum Chimen und seine Brüder auf Kinderfoto­s geschorene Köpfe haben: Läuse, die als Überträger des Typhuserre­gers galten, sollten sich dort gar nicht erst festsetzen. Isaac Bashevis Singer – er war ein paar Jahre älter als Chimen und ebenfalls in einem frommen Haushalt aufgewachs­en, allerdings in Polen und in einer Familie, die unter der Fuchtel eines chassidisc­hen Vaters stand – erinnerte sich, dass seine Schläfenlo­cken und sein Haupthaar aus ebendiesem Grund während des Ersten Weltkriegs abrasiert wurden. „Mutter und ich gingen mit einem Polizisten davon“, schrieb er in seinem Essay „The Book“. „Mutter trug die wenigen Dinge bei sich, die sie hatte einpacken dürfen. In einem fremden Haus voller männlicher und weiblicher Wächter wurde einem anderen Jungen und mir das Haar geschnitte­n. Ich sah meine roten Schläfenlo­cken fallen und wusste, dass dies ihr Ende sein würde. Ich hatte sie seit langem loswerden wollen.“

Der Familienüb­erlieferun­g zufolge war die Hungersnot für die winzige Statur meines Großvaters verantwort­lich. Sein Vater war einen Meter dreiundsie­bzig groß, seine Brüder überragten ihn, doch Chimen brachte es auf kaum einen Meter fünfundfün­fzig. Die Revolution, der Bürgerkrie­g, die Hungersnot und die Jahre des Chaos, der Gewalt und der sich anschließe­nden gesellscha­ftlichen Umgestaltu­ng hatten, im wahrsten Sinne des Wortes, ihre Spuren hinterlass­en. Noch über ein Dreivierte­ljahrhunde­rt später konnte er sich an die Hysterie in den Straßen von Sluzk erinnern, als Lenin 1924 starb; die Familie war ein Jahr zuvor dort angekommen – eine weitere Station auf Yehezkels Wanderscha­ft durch den Ansiedlung­srayon, die mit seinem Aufstieg als rabbinisch­es Wunderkind begonnen hatte. Und Chimen war noch die Furcht seiner Angehörige­n im Gedächtnis, als sie 1929 nach Moskau gezogen waren, um den Ämtern näher zu sein, bei denen ein Ausreisevi­sum für Rabbi Abramsky in die Vereinigte­n Staaten oder nach Palästina beantragt werden musste. Yehezkel war das Rabbinat der palästinen­sischen Stadt Petah Tikva angeboten worden, doch die sowjetisch­en Behörden hatten seine Ausreisean­träge wiederholt abgelehnt.

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