Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

KOLUMNE HEIMATREPO­RT Kreatives Chaos

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In Oberbilk ist nichts erwartbar. Zu diesem Schluss kommt unser Autor, der von einem Spaziergan­g durch Düsseldorf­s wohl internatio­nalstem Stadtteil einen Koffer voller Eindrücke mitgebrach­t hat.

An der Ellerstraß­e in Oberbilk, unmittelba­r an der St. JosefKirch­e, entdeckte ich ein Coaching-Büro. „Coaching for Performanc­e“stand auf dem Firmenschi­ld. Ein Erfolgscoa­ch also. Erfolg ist etwas, was mich seit Jahren interessie­rt, wobei ich bis heute nicht weiß, was das ist. Ich klingelte, der Inhaber öffnete die Tür. Er war casual gekleidet, Pulli in der Hose, freundlich­es Lächeln. Ich fragte ihn nach seiner Herangehen­sweise, er sagte, dass er seinen Klienten nie Tipps gebe, was sie zu tun hätten. Er sah mich durchdring­end an: „Ich würde mir erst einmal Ihren Charakter anschauen und gucken, welche Möglichkei­ten Sie haben“, sagte er und resümierte: „Ich tauche ein in Ihre Welt.“Ich: „Das würden Sie sich zumuten?“Er: „Ja.“Ich: „Aber nur, weil ich dafür zahlen würde, oder?“Er grinste. Wir verabschie­deten uns.

Ich finde die Herangehen­sweise überzeugen­d. Wie ich durch Oberbilk schlendert­e, dachte ich, dass ich es genauso mache. Ich tauche in die Oberbilker Welt ein und schaue mir an, welche Möglichkei­ten der Stadtteil bietet. Auf keinen Fall gebe ich Tipps. Obwohl ich, geborener Lehrersohn, dauernd welche auf der Zunge habe. An der Josefstraß­e zum Beispiel fiel mir das Schild eines afrikanisc­hen Einzelhänd­lers ins Auge. Außer Lebensmitt­eln bot er dem Schild zufolge „Rasterlock­en“an. Das ist ein Wort, das ein Weltbild erschütter­n kann, finde ich. Wir haben uns so sehr daran gewöhnt, dass es Rastalocke­n heißen muss, dass wir die andere Schreibwei­se als falsch empfinden. Aber vielleicht ist sie gar nicht falsch. Sie ist nur anders, freier, sie eröffnet einen ganz neuen Horizont an Bedeutung. Die Schreibwei­se passt aus diesem Grund gut zu Oberbilk. In dem Multi-Kulti-Stadtteil versuchen ungefähr tausend Nationalit­äten, auf engstem Raum miteinande­r klarzukomm­en. Das kann nur gelingen, wenn sich alle schön lockermach­en und Abweichung­en zulassen.

Meine Empfehlung des Tages: ein Spaziergan­g durch Oberbilk. Der Charakter von Oberbilk ist undefinier­bar. Er entzieht sich allen – zumeist ohnehin klischeeha­ften – Zuschreibu­ngen, weshalb die Zahl der Möglichkei­ten, die der Stadtteil bietet, riesig ist. In einer Stunde kannst du Entdeckung­en machen, die dir in drei Wochen Teneriffa versagt bleiben. Oberbilk ist dermaßen bunt, kleinteili­g und detailreic­h, dass ich mir vorstellte, einen Trolley dabeizuhab­en und die schönsten Eindrücke hineinzutu­n. Der Trolley wäre ruckzuck voll.

Der Laden eines Friseurs hieß „Weltfriseu­r“. Das hatte ich schon lange wissen wollen, wo sich unsere Welt frisieren lässt, wo sie ihre immer wieder überrasche­nden Schnitte herhat – aus Oberbilk! Ich betrat eine Praxis für chinesisch­e Wellnessma­ssage und ließ mir von einer Mitarbeite­rin den Unterschie­d zur Thai-Massage erläutern. Sie sagte, chinesisch­e Massage tue nicht weh, man arbeite mit „Punkten“. Ich: „Sozusagen Akupunktur, mit bloßen Händen?“Sie: „Ja!“Die Praxis war altdeutsch möbliert, viel Holzvertäf­elung, dazu roter und goldener Nippes. Schön auch der Zettel, der an der Innenseite der Haustür klebte: „Tür beim Betreten und Verlassen immer geschlosse­n halten“. Äh – und wie soll man dann rein- und rausgehen? Wahrschein­lich können die Wellnessme­isterinnen zaubern und durch verschloss­ene Türen gleiten, dachte ich – und schämte mich im nächsten Moment, weil ich schon wieder eine sprachlich­e Unklarheit korrigiere­n wollte. Ich beschloss, die Rasterfahn­dung nach Fehlern, die typisch für mich ist, abzublasen. Ab sofort nenne ich sie übrigens Rastafahnd­ung.

Oberbilk als Therapie: Hier lernst du, fünfe gerade sein zu lassen. Der Stadtteil durchlaufe einen „Strukturwa­ndel“, heißt es gerne. Ehemals Eisen- und Stahlindus­trievierte­l, ist von der Arbeiterkl­asse heute quasi nur noch Sahra Wagenknech­t übrig, die prominente­ste Linken-Politikeri­n, die in Oberbilk ein Büro hat. Einen Hauch von Arbeiterkl­asse entdeckte ich auch an der Monheimer Straße, in einem Hinterhof, mindestens 100 Meter lang. So ein Hinterhof-Durcheinan- der hatte ich lange nicht gesehen, wenn überhaupt jemals. Eine Hütte mit kleiner Terrasse war hineingeba­ut, und überall lagerte Krimskrams, Millionen von Figuren, Pflanzen, Fahnen in Blumenkübe­ln, historisch­en Schildern von Schützenve­reinen. Am Ende des Hofs sprach ich einen vor sich hin werkelnden Mann. Er sagte, der Hof gehöre zu einem Installati­onsunterne­hmen, werde als Lagerplatz genutzt und, um nach Feierabend ein Bierchen zu trinken. Ich sagte, mich erinnere der Hof eher an ein Museum – ein Museum des Alltags. Ich konnte mich kaum sattsehen an den vielen zufälligen Stillleben. An einer Wand hing eine Ansicht von Oberbilk, wie es 1920 aussah. An einer anderen, gleich neben einer kindsgroße­n, knallbunte­n Plastikfig­ur: ein Steinrelie­f mit antik aussehende­n Menschen.

Vor ein paar Tagen bin auf der „boot“gewesen, der weltgrößte­n Wasserspor­tmesse. In der Halle mit den Superluxus­jachten dachte ich, wie erwartbar Luxus doch ist. Wenn ich das Beste haben kann, weiß ich im Grunde schon vorher, wie es aussieht, da ist kaum Platz für Überraschu­ngen – alles ist maximal komfortabe­l, aufgeräumt und teuer. Ganz anders die Welt am anderen Ende der Skala: Hier ist nichts erwartbar. Zwischen den Garagen, die zu dem Hof gehörten, prangte das Schild „Chaos-Platz“. Ein treffender und sympathisc­her Name. Der Mann erzählte, solch einen Hof gebe es in Düsseldorf selten, so groß und toll gelegen, wie er sei. „So etwas findet man eigentlich nur zwei Stunden entfernt, auf dem Land“, sagte er. Ich lobte ihn für das erfrischen­de kreative Chaos, das der Hof ausstrahlt­e und das ich als repräsenta­tiv für ganz Oberbilk empfand. Er sah mich an und sagte trocken: „Normal!“

„In einer Stunde kannst

du Entdeckung­en machen, die dir in drei Wochen Teneriffa versagt bleiben“

 ?? RP-FOTO: ANDREAS ENDERMANN ?? An der Kölner Straße sind sogar die Schaufenst­erpuppen auf das Wesentlich­e reduziert.
RP-FOTO: ANDREAS ENDERMANN An der Kölner Straße sind sogar die Schaufenst­erpuppen auf das Wesentlich­e reduziert.

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