Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

ANALYSE Heute

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ist die Mauer so lange Geschichte, wie sie zuvor Realität war. Diese historisch­e Monstrosit­ät mitten in Deutschlan­d war nicht so unüberwind­lich, wie sie schien. Eine Bilanz zwischen Ernüchteru­ng und Genugtuung.

sein, frei von Terrorismu­s und am Strand sogar frei von Konvention­en beim Massenphän­omen FKK.

Es waren nicht wenige, die diesen Sozialismu­s als real existieren­de Willkürher­rschaft erlebten und erlitten. Aber der Apparat funktionie­rte auch dank der Mauer so gut, dass diese Perspektiv­e es immer weniger in den Mainstream westlicher Meinungen schaffte.

Zehntausen­d Tage Mauer waren zehntausen­d Tage Realität zweier Gesellscha­ftssysteme, die einander das Gefühl vermittelt­en, etablierte und stabile Staaten zu sein. Sie ankerten einerseits fest im westlichen, anderersei­ts fest im östlichen Bündnis. Der Gegen- satz schien nicht Demokratie und Diktatur, nicht Entscheidu­ngsfreihei­t und sowjetisch­e Hegemonie. Ost und West erschienen wie zwei Siedlungsg­ebiete rechts und links eines Bergkamms.

Der Blick auf die Mauer wird von zwei Sätzen geprägt, die heute als Fake News allererste­n Ranges bezeichnet würden. Der eine stammt aus dem Jahr des Mauerbaus vom damaligen DDR-Machthaber Walter Ulbricht: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“Es war eine zynische Verleugnun­g bevorstehe­nder Handlungen. Der andere Satz stammt aus dem Jahr des Mauerfalls vom damaligen DDR-Machthaber Erich Honecker: „Die Mauer wird in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben, wenn die dazu vorhandene­n Gründe nicht beseitigt sind.“

Keine zehn Monate später waren die Mauer und die Macht des Regimes beseitigt, weil Moskau das so wollte und das Volk keine Angst mehr hatte. Es entstanden die unvergessl­ichen Momente der Massen, die sich in den Armen liegen, und einer bald wiedervere­inigten Nation, die der damalige Regierende Bürgermeis­ter von Berlin, Walter Momper, auf die Formel vom „glücklichs­ten Volk der Welt“brachte. Für die Wissenscha­ft, die über Jahrzehnte die Welt entlang der Systemgege­nsätze und der Ost-West-Konfrontat­ion analysiert hatte, war das „Ende der Geschichte“(so 1992 der US-amerikanis­che Politologe Francis Fukuyama) gekommen. Der wirtschaft­liche und politische Liberalism­us hatte gesiegt. Damit schienen alle Fragen geklärt. 10.315 Tage später wissen wir: Die Geschichte geht weiter. Auch die Geschichte der ideologisc­hen Kämpfe. Der Liberalism­us wird attackiert vom Islamismus. Und der Populismus schafft es, im Land, das sich als Leuchtturm der Freiheit versteht, ernsthaft Begeisteru­ng für die Idee zu wecken, eine riesige Mauer zu bauen.

So bleibt nach 10.315 Tagen für diejenigen, die damals glaubten, auch ihre Kinder und Enkel würden noch mit der Mauer leben müssen, eine große Genugtuung. Nämlich die Frage ebendieser Kinder und Enkel: „Sag mal, was war eigentlich die DDR?“

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