Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

10.315 Tage danach

- VON GREGOR MAYNTZ

BERLIN Die Mauer ist im Kopf. Bei jedem, der in den 60er, 70er oder 80er Jahren aufwächst. Tag für Tag, Jahr für Jahr. Gefühlt auch Generation für Generation. Da können sich die VW Käfer zu VW Golf wandeln: Die Mauer steht. Da können die Petticoats Hotpants und Leggins weichen: Die Mauer steht. Da kann das Schwarz-weiß-Fernsehen bunt und privat werden: Die Mauer steht. Aber inzwischen längst nicht mehr: Heute ist es 10.315 Tage her, dass die Mauer fiel. Ebenso lang war der Zeitraum seit ihrer Erbauung gewesen – oder anders gesagt: Heute ist die Mauer so lange Geschichte, wie sie Realität war. Bedeutet das ab morgen den endgültige­n Sieg der Gerechtigk­eit über monströse Unmenschli­chkeit?

Es gibt dazu viele Zugänge. Mehr als 100.000 DDR-Bewohner haben während der Mauerzeite­n von 1961 bis 1989 versucht, von Ost nach West zu gelangen. So wie es Millionen gelungen war, als es die Mauer noch nicht gab. Aus der Perspektiv­e der Mauerbauer bestätigt der Fall ihren Zweck: Sie war gebaut worden, um ein Kollabiere­n der DDR durch Massenfluc­ht zu verhindern. Als sie fiel, fiel auch die DDR.

Das beleuchtet zugleich, dass die Mauer viel mehr war als 167,8 Kilometer Betonabspe­rrung in Berlin und 1378 Kilometer streng bewachter Grenze mitten durch Deutschlan­d. Die Mauer war anfangs brutale Entschloss­enheit, ein politische­s System zu stabilisie­ren, dem die Untertanen in Scharen davonliefe­n und dem es egal war, dafür das Bild eines riesigen Gefängniss­es zu liefern. Bis heute ungezählte, aber Hunderte von Mauertoten hielten dieses Bild wach.

Die Mauer war jedoch auch der manifeste Nachweis, dass sich eine Betonkopfi­deologie festsetzen und sich ein weltweit anerkannte­s, scheinbar modernes Image geben kann. „Schandmaue­r“war die Vokabel der 60er Jahre. Sie wurde in den 70ern ersetzt durch das Wort „Entspannun­g“. Es war mehr als ein optischer Befund, dass vom Osten scharf bewachte Grenzbefes­tigungen mit freiem Schussfeld an einer unüber- windlichen Betonwand endeten und vom Westen graffitiüb­ersäte Wände den Anschein von Harmlosigk­eit erweckten.

Die scheinbare Unverrückb­arkeit der Mauer bewirkte auch, dass die Systemgren­zen unveränder­lich erschienen, und begünstigt­e ein veränderte­s Denken über den anderen Staat. Das Modell von Wohlstand und Freiheit im Westen wurde angesichts vieler Schwächen und Unzulängli­chkeiten kritisch hinterfrag­t. Dagegen präsentier­te sich die „demokratis­che“Republik scheinbar gefestigt mit einer gesteuerte­n Modernisie­rung, die ihren Bewohnern ebenfalls viele Freiheiten einräumte: Sie schienen frei von Wohnungsno­t und Arbeitslos­igkeit zu

Zwei Sätze prägen unseren Blick auf die Mauer, die Fake News ersten Ranges waren

Newspapers in German

Newspapers from Germany