Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
10.315 Tage danach
BERLIN Die Mauer ist im Kopf. Bei jedem, der in den 60er, 70er oder 80er Jahren aufwächst. Tag für Tag, Jahr für Jahr. Gefühlt auch Generation für Generation. Da können sich die VW Käfer zu VW Golf wandeln: Die Mauer steht. Da können die Petticoats Hotpants und Leggins weichen: Die Mauer steht. Da kann das Schwarz-weiß-Fernsehen bunt und privat werden: Die Mauer steht. Aber inzwischen längst nicht mehr: Heute ist es 10.315 Tage her, dass die Mauer fiel. Ebenso lang war der Zeitraum seit ihrer Erbauung gewesen – oder anders gesagt: Heute ist die Mauer so lange Geschichte, wie sie Realität war. Bedeutet das ab morgen den endgültigen Sieg der Gerechtigkeit über monströse Unmenschlichkeit?
Es gibt dazu viele Zugänge. Mehr als 100.000 DDR-Bewohner haben während der Mauerzeiten von 1961 bis 1989 versucht, von Ost nach West zu gelangen. So wie es Millionen gelungen war, als es die Mauer noch nicht gab. Aus der Perspektive der Mauerbauer bestätigt der Fall ihren Zweck: Sie war gebaut worden, um ein Kollabieren der DDR durch Massenflucht zu verhindern. Als sie fiel, fiel auch die DDR.
Das beleuchtet zugleich, dass die Mauer viel mehr war als 167,8 Kilometer Betonabsperrung in Berlin und 1378 Kilometer streng bewachter Grenze mitten durch Deutschland. Die Mauer war anfangs brutale Entschlossenheit, ein politisches System zu stabilisieren, dem die Untertanen in Scharen davonliefen und dem es egal war, dafür das Bild eines riesigen Gefängnisses zu liefern. Bis heute ungezählte, aber Hunderte von Mauertoten hielten dieses Bild wach.
Die Mauer war jedoch auch der manifeste Nachweis, dass sich eine Betonkopfideologie festsetzen und sich ein weltweit anerkanntes, scheinbar modernes Image geben kann. „Schandmauer“war die Vokabel der 60er Jahre. Sie wurde in den 70ern ersetzt durch das Wort „Entspannung“. Es war mehr als ein optischer Befund, dass vom Osten scharf bewachte Grenzbefestigungen mit freiem Schussfeld an einer unüber- windlichen Betonwand endeten und vom Westen graffitiübersäte Wände den Anschein von Harmlosigkeit erweckten.
Die scheinbare Unverrückbarkeit der Mauer bewirkte auch, dass die Systemgrenzen unveränderlich erschienen, und begünstigte ein verändertes Denken über den anderen Staat. Das Modell von Wohlstand und Freiheit im Westen wurde angesichts vieler Schwächen und Unzulänglichkeiten kritisch hinterfragt. Dagegen präsentierte sich die „demokratische“Republik scheinbar gefestigt mit einer gesteuerten Modernisierung, die ihren Bewohnern ebenfalls viele Freiheiten einräumte: Sie schienen frei von Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit zu
Zwei Sätze prägen unseren Blick auf die Mauer, die Fake News ersten Ranges waren