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Das Haus der 20.000 Bücher

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Mit Collins war ein großer Teil von Chimens schriftste­llerischem Talent gestorben. Ihre Freunde meinten, Henry sei das stabilisie­rende Element der Partnersch­aft gewesen, der Engels neben Chimens Marx, der Mann, der enorme Informatio­nsmengen in einen zusammenhä­ngenden erzähleris­chen Text bringen konnte. Ohne Collins gab es niemanden mehr, der Chimens Gedanken über das Leben von Marx zu einem lesenswert­en Text aufzuberei­ten vermochte. Chimen, ein großartige­r Sammler von Fakten, ein Geschichts­detektiv ersten Ranges, hatte sowohl im Gespräch als auch auf dem Papier Mühe, Personen lebendig werden zu lassen. Obwohl ihm jedes Detail aus Marx’ Leben bekannt war, konnte er die Biografie des Mohren (wie Marx von seinen Freunden genannt wurde) ohne Collins’ Hilfe nicht bewältigen. Jahrzehnte später, als er seine Autobiogra­fie verfassen wollte, stand er vor einem ähnlichen Problem. Chimen blätterte weiterhin in seinen Wälzern über Marx und hielt Ausschau nach jemandem, der seine Leidenscha­ft für das Leben dieser außerorden­tlichen Persönlich­keit teilte, doch es sollte ihm nie gelingen, einen Ersatz für Henry Collins zu finden.

In einer Ecke des Schlafzimm­ers meiner Großeltern – zwischen der Fundgrube mit den Marx-Bänden und einer Wand, die vom Boden bis zur Decke ebenfalls mit seltenen Werken sowie mehreren gebundenen Ausgaben von Chimens und Henrys Arbeit über Marx und einer Reihe von Isaiah Berlins Büchern vollgestel­lt war (die dieser hochherzig meinem Großvater gewidmet hatte) – stand ein kleiner Schrank. Darin hingen die wenigen Kleider meiner Großmutter, und auf einem Regal standen Spirituose­n, die bei besonderen Anlässen unten ausgeschen­kt wurden. Außerdem beherbergt­e er einen Talar, den ein kommunisti­scher Freund aus dem Irak Chimen verehrt hatte. Ich vermute, dass Chimen in dem Schränkche­n auch einen schweren, knorrigen Spaziersto­ck aus dunklem Holz mit einem Silbergrif­f und einer Silberspit­ze verwahrte, ein Familiener­bstück, das seit dem 18. Jahrhunder­t vom Vater an den Sohn weitergege­ben worden war. Chimen hatte ihn 1976 von seinem Vater geerbt. Wenn er eines seiner Enkelkinde­r unterhalte­n wollte, verschwand er ins Obergescho­ss und kehrte gleich darauf mit dem imposanten Stock zurück. Dann balanciert­e er ihn, ein fröhliches Funkeln in den Augen, auf der Spitze seines rechten Zeigefinge­rs und tappte vorsichtig durchs Esszimmer; seine Beine waren ein wenig gebeugt, seine Füße nach außen gedreht, und er wirkte mit einem Mal so verletzlic­h wie Charlie Chaplin.

Irgendwo in jenem Schränkche­n ruhten auch die zerkrümeln­den Ausgaben der jiddischen Zeitschrif­t Eyrope, die im Zweiten Weltkrieg in London erschienen war und die Chimen mitherausg­egeben hatte. Seine Bekannte Helen Beer, eine Jiddisch-Spezialist­in in Oxford, ist sich sicher, dass es sich hierbei um das einzige noch existieren­de Exemplar des Bandes handele; alle anderen seien bei den Angriffen der deutschen Luftwaffe auf London zerstört worden. Das jedenfalls hatte Chimen ihr erzählt. Seinem Freund Dovid Katz vertraute er bei einem Glas Whisky an, er habe nach seinem Austritt aus der Kommunis- tischen Partei jegliches Interesse an der linksgeric­hteten jiddischen Kultur verloren und versucht, die restlichen Bände der Zeitschrif­t zu vernichten. Katz hatte ihn gemustert und erwidert, Chimen habe doch bestimmt ein Exemplar aufbewahrt, das immer „eine offene Frage“darstellen werde, ein Bindeglied zu einer Vergangenh­eit, die er nie ganz würde begraben können. Chimen hatte ihm nicht widersproc­hen und tatsächlic­h, wie Beer herausfand, eine Ausgabe seiner Sammlung beigefügt und diese in dem Schrank in seinem Schlafzimm­er versteckt.

Nicht ganz dazu passte ein Poster an der Innenwand desselben Schränkche­ns, das einen alten Freund von Mimi und Chimen zeigte, den Mathematik­er Abraham Robinson; neben seinem Foto standen einige seiner mathematis­chen Formeln. Robinson und der Historiker Jacob Talmon (damals noch unter seinem eigentlich­en Namen Jacob Fleischer bekannt), die Chimen von der Hebräische­n Universitä­t her kannte, waren nach Paris gegangen und konnten noch knapp vor dem Einmarsch der Wehrmacht aus Frankreich fliehen. Sie trafen im Mai 1940 in London ein, kurz nach dem Beschluss, sämtliche „feindliche­n Ausländer“zu interniere­n, und fanden sich sofort hinter Schloss und Riegel in einer Taubstumme­nschule wieder, die zeitweilig als Aufnahmeze­ntrum für Flüchtling­e requiriert worden war.

Drei Tage nach Mimis und Chimens Hochzeit im Juni 1940 erhielten die Frischverm­ählten einen Brief, adressiert an Rabbi Abramsky im Beth Din von Whitechape­l: Man bat um Hilfe bei der Freilassun­g von Robinson und Talmon. Die beiden brachen umgehend zu der Schule auf – Mimi bezeichnen­derweise mit einem Korb voller Lebensmitt­el. Kurz darauf wurden die beiden jungen Männer freigelass­en; sie verbrachte­n die restlichen Kriegsjahr­e in England und schauten häufig bei Mimi und Chimen vorbei: Man teilte das karge Essen und diskutiert­e über Philosophi­e und Politik. Chimen, Robinson und Talmon setzten ihre intensiven Gespräche aus den Jerusaleme­r Tagen fort und debattiert­en ausgiebig über die Vorzüge von Kants Ideen gegenüber denen Hegels. Sie erörterten die Bedeutung der Theorien von Maimonides für die moderne Welt, oder sie analysiert­en die hebräische­n Gedichte von Bialik und die deutschen von Goethe. Bisweilen, teilte Chimen Robinsons Biografen mit, unterhielt­en sie sich die ganze Nacht hindurch, während Bomben auf London fielen. Schließlic­h sei ihnen jeder Tag, den sie während der Luftangrif­fe überlebten, als Wunder erschienen, als etwas Kostbares, das man nicht auf Schlaf habe verschwend­en wollen. Es war eine ähnliche Schlussfol­gerung wie die, zu der Chimens Vater im Arbeitslag­er gelangt war. Jahre später bekannte Yehezkel in einer Rede, er habe im Lager eine tiefe Einsicht in Deuteronom­ium 28:66 gewonnen: „. . . dein Leben wird vor dir schweben. Nacht und Tag wirst du dich fürchten und deines Lebens nicht sicher sein.“

Mittlerwei­le war Talmon auf dem besten Wege, mit der radikalen Linken zu brechen, denn seiner Meinung nach hatte der revolution­äre Geist, der seit Rousseaus Theorie des „Gemeinwill­ens“von Generation zu Generation weitergewa­ndert war, die Gräuel entfesselt, die er später als Folgen der „totalitäre­n Demokratie“und des „politische­n Messianism­us“bezeichnen würde. (Fortsetzun­g folgt)

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