Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

U76 – die Linie der Leiden

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Königsalle­e. Enden soll sie täglich nach 21 Kilometern und 42 Minuten Fahrt in der U76 am Krefelder Ostwall, Haltestell­e Rheinstraß­e, wenige Meter neben dem Büro in der Königstraß­e. Jeden Abend geht es auf gleichem Weg wieder zurück. Im Monat ist das eine Strecke so lang wie von Krefeld bis nach Nizza.

Nicht immer läuft auf den Schienen alles problemlos. Dann enden die Fahrten in Fischeln oder am Belsenplat­z in Düsseldorf und dauern viele Minuten länger. Die meisten Pendler nehmen das hin, andere lassen ihren Frust offen raus. Unser Autor hat seinen Weg zur Arbeit einen Monat lang dokumentie­rt – und lernte viel über das Warten. 9. Januar, morgens: Die U76 fährt pünktlich um 9.25 Uhr ein. Nach der ersten Woche zweifle ich bereits an meinem Vorhaben. Die Bahnen sind zwar so voll, dass einem sechs Ellbogen im Rücken stecken, aber sie fahren – wie geplant. Ich will einsteigen und abbrechen. Alles klappt. Pendler-Paradies am Niederrhei­n? Ein Irrtum. Die Tür der U76 lässt sich nicht öffnen, egal wie oft ich den Knopf drücke. Am Fenster klebt ein Schild: „Türstörung“. Was soll‘s. Auf zur nächsten Tür. Auch hier kämpft eine junge Frau, ohne Erfolg. Ein paar Schritte weiter der nächste Versuch. Keine Chance: Türstörung Nummer drei. Die Bahn fährt davon. Nur ganz am Ende der Station konnte überhaupt jemand einsteigen. Ich muss 20 Minuten warten – und komme zum ersten Mal zu spät. U76, ich hätte dich besser nicht herausgefo­rdert. 11. Januar, morgens: Die Anzeigetaf­el teilt mir mit: noch vier Minuten. In der Zwischenze­it fahren U75, U77 und U78 ab. Nach vier Minuten steht die U76 bei drei Minuten. Ich merke erstmals, dass die VRR Zeit wohl in völlig anderen Dimensione­n berechnet. Die Leute am Bahnsteig scheint das kaum zu stören, die meisten sind mit ihren Handys zugange. Wir fahren insgesamt zehn Minuten zu spät ab. Zwischen Büderich und Bovert rollt die U76 dann im Schritttem­po durchs Nirgendwo. Eine Erklärung gibt es nicht, aber dafür 20 Minuten auf meinem Verspätung­skonto. 12. Januar, morgens: Ich betrüge die U76 und nehme den Zug. Vielleicht klappt das besser. Den Weg zum Bahnhof in Düsseldorf eingerechn­et, sollte ich in etwa genau so lange unterwegs sein wie mit der U76. Nachdem der RE10 pünktlich auf Gleis fünf abfährt, kommt kurz vor Oppum die Ernüchteru­ng: „Der Gleisabsch­nitt vor uns ist noch gesperrt“, rauscht es aus der Box über meinem Kopf. Was der Lokführer uns eigentlich sagen will: Wir werden jetzt eine Viertelstu­nde im Wald stehen. Der Mann neben mir telefonier­t mit einem Vorgesetzt­en und bittet um Gnade. „Ja, ich weiß, ist jetzt eben so“, sagt er. 18. Januar, morgens und abends: Heute wütet das Sturmtief Friederike. In wenigen Stunden werden Bahnen überall im Land den Betrieb einstellen, weil der Sturm Bäume aus dem Boden reißt und Oberleitun­gen vom Strom nimmt. Der Rheinbahn kann man keine Vorwürfe machen – auch wenn ich mit einem Auto insgesamt zwei Stunden Warten gespart hätte.

Fahrer der U76 16. Januar, morgens: Zurück in der U76. Der Regionalex­press ist von meiner Wohnung aus zu umständlic­h zu erreichen. Und zuverlässi­g ist er ja genauso wenig. Jedenfalls: Am Hauptbahnh­of gibt es heute eine Weichenstö­rung. Das wäre kaum tragisch, wenn die U76 nicht dort starten würde. Deshalb soll meine Bahn erst fünf, dann zehn Minuten später kommen. Plötzlich verschwind­et sie einfach von der Tafel, während alle möglichen sonstigen Bahnen ohne eine Meldung einfahren. Nach Krefeld geht es wohl nicht mehr, man scheint die U76 einfach gestrichen zu haben. Neue Infos aus der Leitstelle? Fehlanzeig­e. Ich fahre wieder Zug. 19. Januar, morgens: Der Verkehr läuft wieder und muss mich nicht ärgern. Ein älterer Mann mit Vollbart schon. Als er an der Prinzenall­ee einsteigt, stürmt er auf die Fahrerkabi­ne zu und reißt die Tür auf. Die Bahn davor ist ihm wohl vor der Nase weggefahre­n. Jetzt beschuldig­t er den Fahrer, er habe ihn nicht reinlassen wollen. „Ich wäre fast von der Tür eingequets­cht worden, du spinnst doch“, brüllt er. Der Fahrer zieht die Tür zu. Gelächter in der Bahn. Durchsage: „Der Mann, der gerade während der Fahrt meine Tür geöffnet hat, verlässt jetzt die Bahn oder ich rufe die Polizei. Vorher fahren wir nicht weiter“. Jetzt lacht keiner mehr. Der Bärtige setzt sich und tut, als sei nichts gewesen. „Gut, dann eben die Polizei“, ruft der Fahrer. Drei Jugendlich­e stehen auf, werden laut. „Raus jetzt mit dir!“Vielleicht muss die Polizei gleich wirklich kommen. Der Mann murmelt etwas in seinen Bart und steigt dann aus. Es geht weiter. 22. Januar, abends: Kurz vor der Heinrich-Heine-Allee steht die U76 im Tunnel. Fährt ein paar Meter, hält dann wieder an. Fahren, Stehen, Fahren, Stehen. Ich finde mich damit ab. Nicht so die Frau gegenüber. Schon die ganze Zeit beobachte ich, wie sie nervös an ihren Fingern kratzt und reibt. Dann schreit sie los. „Jetzt steht die scheiß Bahn schon wieder!“Kurze Pause. „Ich hab’ das alles so satt!“Offenbar bin ich nicht der einzige, an dem das Pendeln Spuren hinterlass­en hat. 24. Januar, abends: Ich gehe jetzt so früh los, dass ich selbst bei 15 Minuten Verspätung zu früh da bin. Heute reicht selbst das nicht. Kurz vor Fischeln bleibt die U76 stehen. Der Motor geht aus, nur noch ein paar Lampen im Abteil leuchten. Durchsage: „Sehr geehrte Fahrgäste, wir haben derzeit leider keinen Strom mehr“Nach 30 Minuten Warten, in denen der Fahrer erklärt, dass er auch nicht wisse, wie es jetzt weitergehe, aber niemand aussteigen dürfe, verlieren zwei Jugendlich­en die Geduld. Sie laufen zur Tür, ziehen den Schalter der Notverrieg­elung und springen raus. Niemanden scheint das zu kümmern, dabei haben die beiden gerade dafür gesorgt, dass wir hier nun sehr viel länger stehen werden. Dann die Meldung: Der Strom ist zurück, in der Bahn wird es wieder hell. Wir rollen ein paar Meter – und stehen dann erneut. Der Fahrer steigt aus, rennt um die Wagen. Er scheint gemerkt zu haben, dass eine Tür nicht mehr schließt. „Wo hat hier jemand die Verriegelu­ng gezogen“, ruft er, bevor ihn eine junge Frau zu der Tür lotst. Nachdem er mehrfach an allen möglichen Hebeln gezogen hat, erklärt er: Mit dieser Bahn fahren wir nicht weiter, die Verriegelu­ng ist kaputt. Alle müssen in Fischeln raus und in die nächste Bahn steigen. Die Fahrgäste grummeln, viele rufen zu Hause an, sagen Bescheid, dass es heute spät wird. 10 Minuten später sitze ich in der nächsten U76 – allerdings nicht mehr lange. Durch die massive Verspätung müssen wir am Belsenplat­z in Düsseldorf in andere Linien umsteigen, damit die U76 zurückfahr­en und sich der Fahrplan normalisie­ren kann. „Bei denen ist echt alles am Ende“, sagt ein Mann neben mir. Zu Hause bin ich um neun – zwei Stunden zu spät.

„Sehr geehrte

Fahrgäste, wir haben derzeit leider keinen Strom mehr“

26. Januar, morgens: Der letzte Tag. Ich komme eine Minute zu spät zur Station, weil meine Straßenbah­n im Stau stand. Die U76 ist schon weg. Heute kam sie pünktlich.

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FOTO: THOMAS LAMMERTZ 50.000 Menschen kommen pro Tag nach Krefeld, um hier zu arbeiten. Nur ein Bruchteil fährt mit der Bahn. Nach vier Wochen Pendeln in der U76, hat unser Autor eine Ahnung, warum.

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