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Vermurkst mit Ansage

- VON JAN DREBES FOTO: DPA

Andrea Nahles könnte morgen zur kommissari­schen SPD-Vorsitzend­en ernannt werden. Das löst Kritik aus und birgt Risiken.

BERLIN Es wäre der vorletzte Schritt hin zu einem historisch­en Moment in der 155-jährigen Geschichte der SPD: Eine Frau wird Parteivors­itzende. An diesem Dienstag tagt das Präsidium im Willy-Brandt-Haus, ganz oben im Helmut-SchmidtSaa­l. Der Anlass ist ernst: Noch-Parteichef Martin Schulz will nicht mehr. Er gibt ab, obwohl er monatelang bis zur Grenze der Belastbark­eit und darüber hinaus für die SPD kämpfte, im Wahlkampf und nach der verlorenen Wahl in den Verhandlun­gen mit der Union. Doch es geht nicht mehr, ohne Fortune, ohne Truppen ist er geliefert. Der Griff nach dem Außenminis­terium war eins zu viel nach all den Wendehals-Auftritten und taktischen Fehlern, die sich Schulz leistete.

Glamourös wird die vermeintli­ch große Stunde von Andrea Nahles aber auch nicht. Die Fraktionsv­orsitzende muss sich morgen einer internen Debatte darüber stellen, ob es wirklich sinnvoll ist, ihre Verabredun­g mit Schulz – die Übergabe des Parteivors­itzes – durchzuzie­hen. Ungeachtet all der Kritik von der Basis. Denn die Mitglieder sind schließlic­h aufgerufen, bis zum 2. März ihr Votum abzugeben: Groko oder No Groko. Schulz, Nahles, all die anderen an der Spitze wollen die Fortsetzun­g der großen Koalition. Die Frage, die sie sich also stellen müssen, lautet: Wie groß wäre der Ärger an der Basis über die Staffelübe­rgabe von Schulz an Nahles, und welchen Effekt hätte das für die Entscheidu­ng der Mitglieder?

Freilich, aus der Partei gab es gestern keine Bestätigun­g, dass morgen die Entscheidu­ng für Nahles wirklich fallen soll. Doch nach dem unrühmlich­en Freitag, als Schulz seinen Verzicht auf das Auswärtige Amt erklärte, liegt die Vermutung nahe, dass es jetzt einen schnellen Wechsel an der Spitze geben soll. Klar ist aber auch: Dieser kann zunächst nur kommissari­sch erfolgen. Ein Sonderpart­eitag müsste binnen drei Monaten Nahles in ihrem Amt bestätigen. Und richtig ist auch, dass dann eine freie Wahl möglich ist. Es könnten sich also Gegenkandi­daten zur Abstimmung stellen. Die derzeit hochkochen­de Debatte um eine Urwahl des Parteivors­itzes wäre gar nicht nötig – oder derzeit möglich. Schließlic­h ist, Stand jetzt, kein Gegenkandi­dat zu Nahles in Sicht.

Der SPD-Vizevorsit­zende und mögliche neue Finanzmini­ster Olaf Scholz erteilte der Forderung nach einer Urwahl gestern Abend ohnehin eine Absage. „Wir haben ein gutes und bewährtes Verfahren, und das ist, dass auf Parteitage­n Vorsitzend­e bestimmt werden“, sagte Hamburgs Regierungs­chef in der ARD-Sendung „Bericht aus Berlin“.

Der ebenfalls dem linken SPDFlügel zugehörige Abgeordnet­e Marco Bülow schrieb am Wochenende bei Twitter zur möglichen Übergabe an Nahles: „Und wofür gibt es stellvertr­etende Vorsitzend­e, wenn diese dann nicht den Vorsitzend­en vertreten können? Denke beispielsw­eise, Malu Dreyer würde uns nun integrativ guttun“, so Bülow. Tatsächlic­h wird die stellvertr­etende Parteivors­itzende und rheinland-pfälzische Ministerpr­äsidentin bereits seit Monaten als mögliche Parteivors­itzende für eine Übergangsz­eit gehandelt.

Beim Seeheimer Kreis, dem konservati­ven SPD-Flügel, sieht man die Personalie Nahles hingegen pragmatisc­h. „Das ist eine politische Entscheidu­ng“, sagte Seeheimer-Chef Johannes Kahrs unserer Redaktion. „Wenn der Parteivors­tand Andrea Nahles eh als Parteivors­itzende vorschlage­n wird, ist es sinnvoll, sie jetzt gleich zur kommis- sarischen Vorsitzend­en zu ernennen“, so der SPD-Politiker.

Und so droht auch in dieser Woche eine Überlageru­ng der eigentlich­en Frage nach den Inhalten des Koalitions­vertrags durch Personalde­batten. Zumal diese von außen weiter angeheizt werden. So schwieg zwar der gestürzte Martin Schulz am Wochenende. Dafür meldete sich seine Schwester Doris Harst via „Welt am Sonntag“zu Wort und wetterte gegen die „Schlangeng­rube Berlin“: „Andrea Nahles, Olaf Scholz und andere machen ihn zum Sündenbock für alles.“Ihr Bruder sei nur belogen und betrogen worden, sagte Harst. Er habe nach der erfolgreic­hen Zeit als Präsident des Europaparl­aments die Berliner Verhältnis­se völlig unterschät­zt, so Schulz’ Schwester.

Wenig hilfreich dürften zudem Äußerungen sein, die als Provokatio­n des möglichen Koalitions­partners Union bestens geeignet sind. So sagte SPD-Generalsek­retär Lars Klingbeil bei einer Veranstalt­ung in Hamburg: „Wenn wir noch einen halben Tag länger gemacht hätten, dann hätten die uns wahrschein­lich das Kanzleramt auch noch gegeben.“Gleichzeit­ig ist die Rückmeldun­g der Bürger widersprüc­hlich. So wünscht sich einer Emnid-Umfrage für die „Bild am Sonntag“zufolge eine Mehrheit der Deutschen, dass die SPD-Mitglieder einer großen Koalition zustimmen (57 Prozent). Doch rund zwei Drittel der Bürger halten die Sozialdemo­kraten nach einer anderen Umfrage gar nicht für regierungs­fähig.

 ??  ?? Schnelle Staffelübe­rgabe? Andrea Nahles soll vermutlich zügig das Amt von Noch-Parteichef Martin Schulz übernehmen.
Schnelle Staffelübe­rgabe? Andrea Nahles soll vermutlich zügig das Amt von Noch-Parteichef Martin Schulz übernehmen.

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