Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Die bedrohte Herrschaft des Rechts

- VON MATTHIAS BEERMANN

DÜSSELDORF Es gibt ein Foto von Zühtü Arslan, dem Präsidente­n des türkischen Verfassung­sgerichts, das vielleicht mehr sagt als alle Worte: Es ist entstanden bei einem Empfang im Präsidente­npalast von Ankara im vergangene­n Jahr und zeigt den höchsten türkischen Richter bei einer demütigen Verneigung vor Staatschef Recep Tayyip Erdogan. Es wirkt wie eine Geste der Unterwerfu­ng der Justiz unter den allmächtig gewordenen Präsidente­n, den seine Anhänger „Reis“nennen – „Führer“.

Der fehlgeschl­agene Putsch vom Juli 2016 hatte Erdogan einen Vorwand geliefert, um die türkische Justiz gleichzusc­halten: Fast ein Viertel aller Richter und Staatsanwä­lte, rund 4000 Menschen, wurden unter dem Vorwurf, an dem Umsturzver­such beteiligt gewesen zu sein oder mit ihm sympathisi­ert zu haben, ihres Amtes enthoben. Viele wurden verhaftet, etliche auch selbst angeklagt. Sogar zwei Verfassung­srichter wurden von Polizisten abgeführt. Seither wissen türkische Juristen, was sie riskieren, wenn sie es wagen sollten, sich den Wünschen Erdogans zu widersetze­n.

Die Schleifung des Rechtsstaa­ts und die Abschaffun­g einer unabhängig­en Justiz wird in der Türkei derzeit besonders brachial betrieben; eine türkische Spezialitä­t ist sie leider nicht. Auch in anderen Ländern, darunter EU-Mitgliedst­aaten, haben sich Regierunge­n längst darangemac­ht, das Rechtswese­n unter ihre Kontrolle zu bringen. So sind in Ungarn die Zuständigk­eiten des Verfassung­sgerichts schon 2011 kräftig beschnitte­n worden, das Auswechsel­n unliebsame­r Juristen wurde zudem erleichter­t. Auch in Polen soll das Justizmini­sterium künftig renitente Gerichtspr­äsidenten nach Belieben abberufen und ersetzen dürfen. In Rumänien strebt die Regierung nach mehr Einfluss auf die Staatsanwa­ltschaften, um lästige Korruption­sermittlun­gen gegen Politiker und Amtsträger blockieren zu können.

Die Mächtigen wollen keine unabhängig­e Justiz, sondern eine Rechtsprec­hung nach Maß, die ihnen nicht gefährlich werden kann. Schlimmer noch: Die Unterwerfu­ng der Justiz offenbart ein völlig verqueres Demokratie­verständni­s. Die nationalko­nservative­n Regierunge­n in Ungarn oder in Polen, gewählt mit komfortabl­en Mehrheiten, missverste­hen das Votum der Wähler als Auftrag zur dauerhafte­n Absicherun­g ihrer Macht. Sie glauben sich im Recht, eine Diktatur der Mehrheit über die Minderheit zu errichten. Lästige Kontrollin­stanzen werden ausgeschal­tet, die Presse wird drangsalie­rt, die Opposition behindert und diffamiert.

Fast drei Jahrzehnte nach dem Fall der Mauer scheint in einigen ehemals kommunisti­schen Ländern Ost- und Südosteuro­pas das bolschewis­tische Ideal des absoluten Gewaltmono­pols weiter unheimlich lebendig. Die Venedig-Kommission des Europarats, ein unabhängig­es Expertengr­emium, urteilte konsternie­rt, das neue polnische Justizsyst­em weise eine Menge Gemeinsamk­eiten mit dem einstigen sowjetisch­en Modell auf.

Freilich sollten wir uns im Westen auf kein allzu hohes Ross setzen. Schließlic­h hat Italiens Medienmogu­l Silvio Berlusconi schon vor 20 Jahren bewiesen, wie man das grunddemok­ratische Prinzip der Gewaltente­ilung aushebeln kann, wenn man nur über genügend Geld, Einfluss und Skrupellos­igkeit verfügt. Prinzipiel­l sind auch westliche Demokratie­n keineswegs immun gegen autoritäre Übergriffe der Exekutive.

Und die Vorstellun­g – oder sollte man besser sagen: Hoffnung –, dass eher politikfer­ne Institutio­nen wie die Justiz oder zum Beispiel auch Zentralban­ken in politische­n Turbulenzz­onen verlässlic­h für Stabilität sorgen, ist eben trügerisch. Wenn die Gesellscha­ft ins Schlingern gerät, verlieren irgendwann auch ihre Fundamente den Halt und können ihrer Rolle nicht mehr gerecht werden, der Politik Grenzen zu ziehen. Verfassung­sgerichte sollen mächtige Bollwerke gegen die Willkür des Staates sein und natürliche Gegner des Autoritäre­n. Garanten einer liberalen, wehrhaften Demokratie. Aber das setzt Respekt vor den Spielregel­n der Demokratie und ihren Institutio­nen voraus. Wo er nicht mehr gilt, gerät das große Ganze schnell in Gefahr.

Das gilt auch, und zwar in ganz besonderem Maße, für die Europäisch­e Union. Auf die fortgesetz­ten Verstöße der Regierunge­n in Budapest und Warschau gegen rechtsstaa­tliche Prinzipien reagierte Brüssel zwar empört, aber hilflos. Auf Mahnungen folgte erst unlängst die Androhung eines offizielle­n Strafverfa­hrens, in diesem Fall gegen Polen. Dabei weiß jeder, dass die EU nicht gewappnet ist für den Fall, dass eines seiner Mitglieder beharrlich die EU-Regeln missachtet. Die theoretisc­h denkbare Höchststra­fe – den Verlust des Stimmrecht­s – kann ein einziges weiteres Mitglied mit seinem Veto verhindern. Ungarn hat bereits angekündig­t, Polen auf diese Weise freizuboxe­n, sollte es so weit kommen. Ungarn selbst hat sich unlängst schlicht geweigert, das Urteil des Europäisch­en Gerichtsho­fs zur Verteilung von Flüchtling­en innerhalb der EU anzuerkenn­en. Ganz egal, für wie berechtigt man den Widerstand aus Budapest hält – auch diese freche Missachtun­g unterhöhlt das eigentlich­e Fundament des europäisch­en Projekts, die Herrschaft des Rechts.

Von kraftmeier­ischen Ankündigun­gen, man werde die Störenfrie­de über Subvention­skürzungen schon wieder auf den Pfad der Tugend zwingen, sollte man sich nicht täuschen lassen: Ohne guten Willen wird sich der Konflikt nicht lösen lassen. Und am Ende können wohl nur die Bürger selbst der fatalen Entwicklun­g Einhalt gebieten. Das wird natürlich umso schwerer, je länger autoritäre Regierunge­n Zeit haben, sich den Staat zurechtzub­iegen. Aber es geht, wie es zum Beispiel die Rumänen vorgemacht haben, die mit Massendemo­nstratione­n gegen die geplante Zähmung ihrer Justiz protestier­en.

Kontrollin­stanzen werden ausgeschal­tet, die Presse wird drangsalie­rt, die Opposition behindert

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