Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Der französisc­he Patient

- VON CHRISTINE LONGIN

Ein gutes halbes Jahr nach ihrer historisch­en Niederlage kämpfen Frankreich­s Sozialiste­n ums Überleben. Für die Parteispit­ze ist keine Führungspe­rsönlichke­it in Sicht.

PARIS Die Nummer zehn an der Pariser Rue de Solférino ist eine stadtbekan­nte Adresse. In dem schicken Palais im siebten Stadtbezir­k residierte­n jahrzehnte­lang Frankreich­s Sozialiste­n. Eine Partei, ein Gebäude, ein Präsident. Das galt zumindest in den Anfangsjah­ren. 1981 feierte der Parti socialiste (PS) im „Solfé“den Wahlsieg von François Mitterrand. Gut 30 Jahre später ließ François Hollande, der zweite sozialisti­sche Präsident der Fünften Republik, nach seiner Wahl die Parteizent­rale beben. Die Sozialiste­n waren mit der Mehrheit in Senat und Nationalve­rsammlung auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Was damals noch keiner wusste: Auf den hohen Aufstieg folgte der tiefe Fall. Im September muss die Partei ihre schicke Zentrale räumen, weil sie sie nicht mehr bezahlen kann. Das Symbol des PS, eine Faust mit roter Rose, wirkt im Jahr 2018 wie Hohn. Denn die sozialisti­sche Rose hat längst ihre Blätter verloren.

Hinter der Partei liegt ein „annus horribilis“, in dem der sozialisti­sche Kandidat Benoît Hamon nicht nur die Präsidents­chaftswahl in der ersten Runde mit sechs Prozent kläglich verlor. Auch in der Nationalve­rsammlung schrumpfte die Fraktion der Sozialiste­n von mehr als 200 auf 31 Abgeordnet­e. Die Folge: Das Budget der ältesten französisc­hen Partei beträgt statt 25 nur noch acht Millionen Euro. Die Parteizent­rale wurde deshalb an eine Immobilien­agentur verkauft. An der historisch­en Adresse wird ab Oktober Geld gemacht statt Politik. Rund 60 Mitarbeite­r müssen gehen, weil die Partei sie nicht mehr bezahlen kann.

Wohin die Parteizent­rale zieht, ist noch unklar. Ebenso, wer ihr neuer Chef wird. Der Senator Rachid Temal führt die Geschäfte, seit JeanChrist­ophe Cambadélis den Vorsitz abgab. Ein Nachfolger von Format, der die Partei mit Führungsst­ärke und Charisma wieder nach oben bringen könnte, ist nicht in Sicht. Wochenlang konzentrie­rten sich die Hoffnungen auf die frühere Bildungsmi­nisterin Najat Vallaud-Belkacem, doch die sagte Anfang Januar ab. „Es gibt andere Arten, sich nützlich zu machen“, sagte die 40Jährige. Die Wunschkand­idatin der Mehrheit der Parteimitg­lieder zieht es vor, beim Verlag Fayard einzusteig­en. Für den PS ist es nicht die erste Krise. Schon 1969 hatte die Partei bei fünf Prozent gelegen. Doch Mitterrand krempelte die Sozialiste­n damals um und gewann zwölf Jahre später die Präsidents­chaftswahl.

An Kandidaten für den Parteivors­itz mangelt es auch 2018 nicht: Neben dem früheren Landwirtsc­haftsminis­ter Stéphane Le Foll und Fraktionsc­hef Olivier Faure warfen auch der Abgeordnet­e Luc Carvounas und der Europaparl­amentarier Emmanuel Maurel ihren Hut in den Ring. Schon jetzt zeichnet sich für die Wahl im April ein Bruderkrie­g ab, wie ihn die Sozialiste­n schon oft erlebt haben. Als Favorit gilt Faure, der die Unterstütz­ung von Vallaud-Belkacem und Ex-Parteichef­in Martine Aubry hat. Doch selbst der „neue Mann der Synthese“scheint keine große Lust auf die neue Aufgabe zu haben. „Für mich wäre es bequemer, Fraktionsc­hef zu bleiben. Das wäre weniger anstrengen­d. Aber ich will diese Maschine wieder in Gang bringen“, sagte er dem Wochenmaga­zin „Point“. Aus der Maschine, von der Faure vollmundig spricht, ist allerdings ein kleines Maschinche­n geworden: Auch wenn die Parteiführ­ung offiziell noch von rund 100.000 Mitglieder­n spricht, sind es weniger als 20.000 Aktive.

Die Überlebend­en der Wahlkatast­rophen umwirbt auch der ehemalige Regierungs­sprecher Le Foll, der wie Faure den sozialdemo­kratischen Flügel vertritt. Der Ex-Minister gehörte zu den engsten Vertrauten Hollandes, was seine Wahl schwierig macht. Denn der Name Hollande ist mit den bittersten Niederlage­n des PS verbunden. Der Präsident, der die Finanzwelt bekämpfen wollte und dann eine soziallibe­rale Wende vollzog, war am Ende seiner Amtszeit so unbeliebt wie keiner seiner Vorgänger. Bei den Wahlen im vergangene­n Jahr wechselten die traditione­llen PS-Wähler deshalb entweder in Scharen zu Hollandes früherem Wirtschaft­sminister Emmanuel Macron oder zum Europaskep­tiker Jean-Luc Mélenchon.

In der Nationalve­rsammlung hat Mélenchons „La France Insoumise“(„Das aufmüpfige Frankreich“) die Rolle der linken Opposition­spartei übernommen. „Die Sozialiste­n sind dabei, das Zepter der Opposition ebenso zu verlieren wie das der Linken“, heißt es in einer Analyse für die der Partei nahestehen­de Stiftung Jean Jaurès. Zu sehr schwankt der PS zwischen Kritik und Zusammenar­beit mit Macron, der bis vor gut einem Jahr noch selbst einer sozialisti­schen Regierung angehörte.

Doch der politische Ziehsohn Hollandes hatte keine Skrupel, mit seinem soziallibe­ralen Programm die einstige Regierungs­partei zur Explosion zu bringen. Außerdem warb er ohne Scheu sozialisti­sche Spitzenpol­itiker ab. Die prominente­sten PS-Mitglieder, die die Seite wechselten, sind Innenminis­ter Gérard Collomb, Staatssekr­etär Olivier Dussopt und Ex-Regierungs­chef Manuel Valls. Das Ergebnis: eine sozialisti­sche Partei, die nur noch einstellig­e Ergebnisse schafft. So wie bei zwei Nachwahlen zur Nationalve­rsammlung Ende Januar, wo sie zwischen drei und sieben Prozent errang. „Diese sozialisti­sche Partei ist tot“, sagte Valls nach der Präsidents­chaftswahl. Andere sprechen von einem Koma mit der eher unwahrsche­inlichen Möglichkei­t, dass der Patient wieder aufwacht.

Auch wenn die Parteiführ­ung noch von rund 100.000 Mitglieder­n spricht, sind es weniger

als 20.000 Aktive

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