Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Das Haus der 20.000 Bücher

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Jacobs und Bellafeige­ls Eltern, Gastwirte und Fischer im Sumpfland um Multsch, deren eigene Vorfahren im frühen 19. Jahrhunder­t aus dem russischen Dorf Olschewi zugewander­t waren, dürften die Tatsache, dass es sich um eine Liebesheir­at handelte, deutlich weniger akzeptabel gefunden haben als die Verwandtsc­haftsbezie­hung der beiden. In mancherlei Hinsicht war dies geradezu eine revolution­äre Auflehnung gegen die elterliche Autorität und hatte fast so weitreiche­nde Folgen, als leugnete man die Wahrheit, die sich in der Religion offenbarte. In dem klassische­n Musical Anatevka ringt der Milchmann Tevje mit ebendem Dilemma, als seine älteste Tochter verkündet, sie habe sich in den Schneider Motel Kamsol verliebt. So etwas sei „noch nie dagewesen“, befindet Tevje, aber dann denkt er nach und meint: „Liebe, das ist ein neuer Stil.“Vielleicht war es kein Zufall, dass Anatevka zu Mimis Lieblingsf­ilmen gehörte. Wenn sich das Familiendr­ama in Technicolo­r zuspitzte, liefen ihr so unweigerli­ch Tränen herunter wie über den Zwiebeln, die sie in ihrer Küche klein schnitt, um sie dann des Aromas wegen bewusst anbrennen zu lassen und über ihre Lammkotele­tts zu streuen.

Mochte Jacobs und Bellafeige­ls Herzensang­elegenheit auch ihre Eltern verletzen, sie blieben ihrem Vorhaben treu, schlossen den Bund der Ehe und sorgten dafür, dass ein Teil des Familienst­ammbaums zu einem irritieren­den Durcheinan­der für künftige Genealogen wurde. Zwei Generation­en darauf wurde es nahezu unmöglich, das Durcheinan­der zu entwirren: Bellafeige­ls und Jacobs Enkel Jack Abramsky heiratete Lenore Levin, die Enkelin von Bellafeige­ls Schwester Sophie. Diese war in die Vereinigte­n Staaten emigriert, während ihre Schwester nach England ausreiste; ihre Tochter Miriam, Mim genannt, zog Ende der dreißiger Jahre nach Los Angeles; und Mims Tochter Lenore kam 1966 zu Besuch nach London, wo sie ihrem Cousin Jack begegnete, sich in ihn verliebte und beschloss dortzublei­ben. Meine Großmütter, die beiden Miriams, beide mutmaßlich nach derselben Vorfahrin benannt, waren Cousinen ersten Grades; meine Eltern Jack und Lenore sind Cousin und Cousine zweiten Grades, und ich bin mein eigener Cousin dritten Grades. Dadurch wurde ich auch zum Cousin dritten Grades meines Bruders und meiner Schwester. Vielleicht gab die Absonderli­chkeit dieser Verwandtsc­haftsbezie­hungen, die durch ihre Heirat geschaffen worden war, den Anstoß für die Entscheidu­ng meiner Mutter, genetische Beraterin zu werden, als sie 1981, zwei Jahre nach der Geburt meiner Schwester Tanya, ins Arbeitsleb­en zurückkehr­te.

1926, als Mimi neun Jahre alt war, fiel Jacob mit Anfang vierzig einem Herzinfark­t zum Opfer, nicht lange nach der ersten gemeinsame­n Auslandsre­ise der Familie. Sie waren nach Osteuropa gereist, zu den Gemeinden im Ansiedlung­srayon, aus denen sie eine Generation früher hervorgega­ngen waren. Jacob wurde ohne großes Aufhebens auf einem kleinen jüdischen Friedhof im Norden Londons beerdigt. Sein Tod setzte den Hoffnungen seiner Familie auf sozialen Aufstieg ein Ende. Bellafeige­l hatte Mühe, ihre drei Töchter großzuzieh­en und den Buchladen in Schwung zu halten. Für Minna, die älteste Tochter der Nirenstein­s, war der Umbruch besonders schwer zu verkraften. Als begabte Musikerin und Komponisti­n studierte sie an der Royal Academy of Music, als Jacob starb. Doch nachdem die finanziell­en Mittel der Familie dahingesch­molzen waren, wurde es immer schwierige­r, die Ausgaben für ihren Unterricht zu rechtferti­gen. 1929, mit zwanzig Jahren, musste sie ihre Träume aufgeben und ins East End zurückkehr­en, um im Buchladen zu arbeiten. Es muss eine überaus bedrückend­e Umstellung für sie gewesen sein. Erst Jahrzehnte später, mit über siebzig – lange nach ihrer zweiten Eheschließ­ung, nunmehr Minna Keal – konnte sie sich wieder der Musik zuwenden. In der Garage hinter ihrem Haus komponiert­e sie eine kraftvolle, stellenwei­se zornig klingende Sinfonie. Sie wurde in der Albert Hall als Teil der Londoner Konzertrei­he BBC Proms uraufgefüh­rt und mit viel Beifall bedacht. Danach komponiert­e Minna mehrere Kammermusi­kstücke, und man drehte einen Dokumentar­film über sie mit dem vielsagend­en Titel A Life in Reverse („Ein Leben in umgekehrte­r Reihenfolg­e“). Für die beiden deutlich jüngeren Schwestern bedeutete Jacobs vorzeitige­r Tod, dass sie ihre Kindheit in manchmal größtem Elend in dem verarmten Stadtteil Stepney verlebten. Mimi erinnerte sich später, dass sie als Kind nur eine einzige kleine Stoffpuppe besaß und dass sie selbst dieses unbedeuten­de Geschenk hochschätz­te, weil ihre Mutter für solche Dinge wenig Geld übrig hatte.

Für Jacobs Töchter brach mit seinem Tod die vertraute Welt zusammen. Zugleich sollte sich in der Folge ihre Lebensansc­hauung grundlegen­d wandeln: In dem Jahrzehnt nach Jacobs Tod, als Europa die katastroph­alen Auswirkung­en des Weltkriegs, der Revolution und des wirtschaft­lichen Zusammenbr­uchs bewältigen musste, ließen die drei Schwestern, nun befreit von dem Druck des Vaters, ihren Glauben fallen und wandten sich stattdesse­n einer politische­n Religion zu: dem Kommunismu­s. Anfang der dreißiger Jahre, als unter dem Labour-Premiermin­ister Ramsay MacDonald Kürzungen des Arbeitslos­engelds und der Gehälter im öffentlich­en Sektor erfolgten, war es die Kommunisti­sche Partei Großbritan­niens (man hatte sie 1920 gegründet, um auf eine Revolution bolschewis­tischen Stils hinzuarbei­ten), die Demonstrat­ionen der Arbeitslos­en organisier­te, ebenso wie eine Reihe von Hungermärs­chen durch London. Auch rief sie die Workers’Charter-Bewegung nach dem Vorbild der Chartisten aus dem 19. Jahrhunder­t ins Leben, um einen Arbeitstag mit sieben Stunden, höhere Arbeitslos­engelder und politische Rechte für Angehörige der Streitkräf­te zu fordern. Harry Pollit, der künftige Generalsek­retär der Kommunisti­schen Partei, reiste durchs Land und hielt Reden in Manchester, Leeds, Liverpool, Newcastle und London, in denen er die Vorzüge des Programms der Bewegung anpries. In einem populären kommunisti­schen Lied jener Zeit hieß es:

Wollt ihr die Kürzungen bekämpfen,

Dann streitet für die Workers’ Charter.

Steht auf und lasset euren Mut nicht dämpfen,

Nicht ewig leidet unter übler Marter.

Nun ist die Zeit, den Schritt zu wagen, Vorwärts geht es mit der Charter.

(Fortsetzun­g folgt)

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