Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Das Haus der 20.000 Bücher
Unsere Feinde werden nicht ruhen und versuchen, Mittel zu ersinnen, mit denen sie uns tödlich verletzen können“, warnte Weizmann. „Wir müssen die Dinge beobachten und wachsam sein und vor allem einen alljüdischen Kongress organisieren, wodurch sich unsere Position mit Sicherheit festigen wird.“In einer handschriftlichen Liste seiner wichtigsten Besitztümer, die Chimen in fortgeschrittenem Alter verfasste, erwähnt er einen Originalbrief von Voltaire über Europas Juden. Der Brief tauchte allerdings nicht auf, als das Haus geleert wurde. Wie die Laski-Sammlung hatte Chimen ihn wahrscheinlich irgendwo versteckt und schlicht versäumt – oder vergessen –, jemandem mitzuteilen, wo er war. Vielleicht lag er in einer verborgenen Schublade, deren Schloss man mit einem von Dutzenden winziger, nicht beschrifteter Schlüssel, die ebenfalls in dem großen Sekretär gefunden wurden, hätte öffnen können. Höchstwahrscheinlich geriet der Brief versehentlich in einen der vielen hundert Müllsäcke, die mit all den Drucksachen gefüllt wurden, die wegzuwerfen Chimen nie über sich gebracht hatte: mit alten Quittungsformularen von Shapiro, Valentine & Co.; Gas-, Wasseroder Stromrechnungen, die ein halbes Jahrhundert alt waren; Kontoauszügen aus vergangenen Jahrzehnten. Aber vielleicht blieb der Brief trotz allem unversehrt, und jemand wird den alten Sekretär viele Generationen später in einem unscheinbaren Trödelladen kaufen und den Brief von Voltaire – eine Zeitkapsel in einer anderen Zeitkapsel – entdecken. Wer immer diese Person sein mag, ich hoffe, sie wird die exquisite Schönheit dessen erkennen, was sie in der Hand hält. Weiter hinten in der Diele, zwischen der Tür zum Wohnzimmer und der zum Esszimmer, gegenüber einer Kammer mit einer Toilette und einem Waschbecken, stieß man auf eine weitere Reihe von Bildern: Schwarz-Weiß-Fotos, die mein Cousin Rob für ein Schulprojekt aufgenommen hatte. Die Stelle, an der sie hingen, hatte Chimen nur widerwillig von Büchern freigehalten, vermutlich weil die Diele so schmal war, dass Regale gleich gegenüber der Toilette den Zugang zu jenem notwendigen Raum erschwert hätten. Die Bilder zeigten meinen Großvater in Aktion, und es gab auch ein Foto von Mimi und Jenny, „den beiden Frauen seines Lebens“, wie Rob sich ausdrückte. Dort hingen auch eine Großaufnahme von Chimen mit einer Wollmütze auf dem Kopf, eine weitere von der Mütze, die auf einem Bücherregal lag, und noch eine von Chimen, der sich äußerst konzentriert über ein Schachbrett beugte. Manchmal saß ihm jemand an der anderen Seite des Schachbretts gegenüber – ich oder eines der anderen Enkelkinder –, dann wieder stellte er einfach nur die Partie eines Großmeisters nach, über die er in der Morgenausgabe der Times gelesen hatte; dabei vertiefte er sich in sämtliche Züge wie in den Text eines seltenen Buches. „Schach war sein Sport.“Mit diesen Worten hatte Rob erklärt, warum seine Wahl auf die erwähnten Fotos gefallen war. „Sein Geist war der Muskel, den er am liebsten trainierte.“1995, als Chimen auf die achtzig zuging, schrieb er das Vorwort zu Victor Keats’ Buch Chess in Jewish History and Hebrew Literature. Offenbar gab es fast keinen Aspekt des jüdischen Lebens, zu dem Chimen nichts zu sagen hatte. Ich erinnere mich, dass ich häufig am Ende der Diele stand, wo man entweder ins Esszimmer oder in die Küche abbiegen konnte, und zusah, wie mein älterer Cousin Raph das Haus betrat; er ging immer bewusst langsam und hatte die Hände in den Taschen einer hellbraunen Wildlederjacke vergraben. Ich geriet jedes Mal in Aufregung, wenn er kam, denn ich hatte vage Kenntnis davon, dass Chimen und er sich seit Jahren befehdeten – mit einer Intensität, die aus inniger Liebe und einer ungewöhnlichen intellektuellen Rivalität hervorging: Beide waren führende Historiker ihrer Generation; beide galten als bedeutende Büchersammler; beide waren vom Sozialismus fasziniert, und beide verhielten sich ziemlich besitzergreifend gegenüber den Bewegungen, die sie wissenschaftlich erforschten. Einiges davon wusste ich, anderes konnte ich erahnen. Jedenfalls war mir schon in sehr jungen Jahren klar, dass sich die Atmosphäre im Hillway ändern würde, sobald Raph durch die Tür trat: Mimi weinte beinah vor Freude darüber, dass ihr geliebter Neffe sie besuchte, aber dann warf sie Chimen einen Blick zu, um sich zu vergewissern, wie er reagierte. Jedes Mal kam es zu Spannungen zwischen ihnen, Chimens Blutdruck stieg sichtlich, und bald darauf wurden die Stimmen der beiden lauter. Es war vorhersehbar, doch trotzdem sehr oft eindrucksvoll.
Bei alledem behielt Raph seine unbekümmerte Miene bei, sein bewusst cool-intellektuelles Auftreten. Er hatte wuscheliges Haar, das ihm wild in die Stirn fiel; runde Brillengläser balancierten auf seinem schmalen Nasenrücken; hinzu kam die wunderbare zerschlissene Wildlederjacke. Ihm haftete immer der Geruch nach Zigaretten an; seine Stimme war unglaublich sanft, ein wenig nasal und leidenschaftlicher als jede andere Stimme, die ich je gehört hatte; und der Ausdruck seiner Augen wirkte geradezu glückselig. Aber trotz der Jenseitigkeit, die von Raph ausging, wurden Blick und Stimme stählern, wenn er sich mit Chimen über Israel oder die Umtriebe linker Gewerkschaftsführer oder die Richtigkeit von Protestaktionen stritt. Chimen nahm die Veränderung wahr, und sie beunruhigte ihn – zumindest teilweise deshalb, nehme ich an, weil sie ihn daran erinnerte, wie er selbst einst gewesen war. Ich genoss die Vorfreude. Mir gefiel es, diesen mächtigen verbalen Turnieren beizuwohnen und, als ich älter wurde, an ihnen teilzunehmen. Schon als Kind wusste ich: Die Diele war ein besonderer Ort. Nicht bloß ein schmaler, mit einem Teppichboden bedeckter Streifen vom Eingang zur Küche, sondern ein sorgfältig errichtetes Portal zu Debatten und Gesprächen, zu einem Zauberreich. „Diese Welt ist wie eine Diele vor der kommenden Welt“, soll Rabbi Jacob dem Mischna-Traktat Pirkei Avot zufolge vor fast zweitausend Jahren gesagt haben. „Bereite dich in der Diele vor, damit du den Bankettsaal betreten darfst.“
Die Küche Etwas Salz, ein bisschen Zucker und ganz viel Liebe Die Liebe ist ein Symbol der Ewigkeit. Sie beseitigt jedes Zeitgefühl, löscht jede Erinnerung an den Anfang und jede Furcht vor dem Ende. Madame de Staël zugeschrieben.
(Fortsetzung folgt)