Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Fassungslo­sigkeit im SPD-Hauptquart­ier

- VON JENS VOSS

Nichts ist geklärt Bei der zweiten Debatte mit der SPD-Basis zeigte sich, dass die Ratlosigke­it ebenso gewachsen ist wie die Fassungslo­sigkeit über die Berliner Führung. Der Eindruck aus Krefeld: Alles ist offen, es wird knapp.

Die anrührends­ten Momente waren die, wenn alte Kämpen sagten, wie lange sie SPD-Mitglied sind: 20, 30, 40 Jahre. Treue Genossen, die aufgewühlt sind wegen ihrer Partei. Der überrasche­nde Eindruck bei der zweiten Debatte in der Krefelder SPD zur Großen Koalition: Wieder war es brechend voll im SPDHauptqu­artier am Südwall, wieder gab es ein leichtes Plus bei den Befürworte­rn der Groko, doch was klar größer geworden ist, ist die Gruppe der Ratlosen. Gerd Politt zum Beispiel, Sprecher „Arbeitsgem­einschaft 60 plus“. Er gehörte bei der ersten Debatte Mitte Januar noch eindeutig zu den Befürworte­rn der Groko und sagt jetzt: „Ich bin ratlos, ich weiß nicht, was ich machen soll.“Das ist dramatisch für die Berliner SPD: Auch jetzt, da der Koalitions­vertrag vorliegt, ist nichts geklärt und geheilt, im Gegenteil. Die Basis ist noch tiefer zerrissen, ja verstört; die Abstimmung über die Groko ist völlig offen.

Volker Krüger zum Beispiel, 40 Jahre in der SPD, Bezirkspol­itiker aus Bockum. Er sagte irgendwo zwischen Sarkasmus und Betretenhe­it: „Ich bin außerorden­tlich durcheinan­der; ich weiß nicht, wie ich mich entscheide­n soll, wenn die eigenen Abgeordnet­en dies verweigern.“Er spielte damit indirekt auf verfassung­srechtlich­e Bedenken gegen die Mitglieder­abstimmung an. Es sind ja eigentlich die Abgeordnet­en, die das Volk repräsenti­eren, und sie sind eigentlich allein ihrem Gewissen verpflicht­et. Nun aber, so sagte Krüger auch, könnten Schüler und Nicht-Deutsche in der SPD über die Regierung in Deutschlan­d mitbestimm­en. Im Groko-Papier vermisste er Antworten auf die Fragen, derer sich die AfD mit Erfolg angenommen hat: „Wir finden Antworten auf Fragen, die in der Wahlbevölk­erung gar nicht gestellt werden“, sagte er mit Blick auf die erneut gesunkenen Umfragewer­te seiner Partei.

Die Kritik an der Führung war durchweg massiv – Politt sagte etwa: „Ich glaube nicht, dass unsere Führung fähig ist, Deutschlan­d mitzuführe­n.“Wut entzündete sich zum geringeren Teil am Groko-Papier – was die Leute regelrecht fassungslo­s macht, ist der Eindruck, dass es am Ende um Postengesc­hacher geht. Martin Schulz wollte ja trotz vollmundig­er Bekenntnis­se nach der Wahl doch Minister unter Merkel werden – das war an diesem Abend nicht vergessen und nicht vergeben. Andrea Nahles schustert sich den Parteivors­itz zu? Sie hätte doch wissen müssen, wie das bei den Mitglieder­n ankommt. Klar wurde: Das Zutrauen in Profession­alität, Instinkt und Glaubwürdi­gkeit der eigenen Spitzenleu­te ist dahin.

Die SPD am Boden: Selbstkrit­ik wurde am Klarsten von den Jungen, den Jusos, formuliert. „Wir wissen als SPD nicht, wofür wir stehen, was Zukunftshe­men angeht“sagte einer. Rente, Arbeit, Steuergere­chtigkeit: „Auf alle Themen, die nicht auf Sicht fahren, haben wir keine Antworten.“Alle spürten: Diesmal ist dieser Ruf kein Überschwan­g der Jugend; auch Ältere riefen nach Erneuerung. Ein Mann formuliert­e die Vision: Es müsse gelingen, innerhalb von zehn Jahren eine neue Linke aufzubauen, die mehrheitsf­ähig ist.

Natürlich gab es wieder die Stimmen, die verantwort­ungsethisc­h für die Groko plädierten. Wenn wir es nicht machen, sagte einer, „dann fallen auch die minimalen Fortschrit­te weg“. Benedikt Winzen, SPD-Fraktionsc­hef im Rat, sagte: „Wir machen uns auf den Weg. Wer sich nicht auf den Weg macht, wird niemals am Ziel ankommen.“Petra Freining beklagte, sie habe das „Hickhack“satt: „Ohne die SPD in der Regierung geht es nicht weiter. Wir sind verpflicht­et, dafür zu arbeiten.“Es gab auch Mitleid mit der gescholten­en Führung. „Wir müssen unseren führenden Politikern auch menschlich­e Schwächen zubilligen“, sagte einer; wenn man jetzt die Groko ablehne, „dann verheizen wir unser gesamtes Führungspe­rsonal“. Und wieder der Pflicht-Gedanke: „Wir sind nicht für uns da, wir vertreten das Volk.“

Was Instinktsi­cherheit bedeuten kann, führte dann Parteichef RalphHarry Klaer vor, der den Abend moderierte. Der Abend war zweigeteil­t. Im zweiten Teil stellte Klaer die Frage, wie die künftigen Abstimmung­sverlierer zur SPD stehen werden. 40 Prozent, so schätzte Klaer, werden enttäuscht sein vom Ausgang der Abstimmung. Was folgte, waren Bekenntnis­se zur SPD, zu Solidaritä­t, zur Einheit. Darum ging es wohl in der Tiefe: Klaer hat mit dieser Frage den Heilungspr­ozess einer verwundete­n Partei eingeleite­t. Noch vor der Entscheidu­ngsschlach­t.

Auch so kann Führung sein.

 ?? RP-FOTO: VO ?? Blick in den Versammlun­gsraum der SPD-Parteizent­rale am Südwall. Knapp 100 Personen waren zur Debatte um die erneute Bildung einer Großen Koalition in Berlin gekommen. Links Parteichef Ralph-Harry Klaer, vorne auf dem Stehtisch Exemplare des Koalitions­vertrages. Klaer verlas zum Beginn der Veranstalt­ung eine Erklärung der Bundes-SPD. Darin wurde aufgeliste­t, was die SPD aus Sicht der Verhandler durchgeset­zt hat – und was nicht.
RP-FOTO: VO Blick in den Versammlun­gsraum der SPD-Parteizent­rale am Südwall. Knapp 100 Personen waren zur Debatte um die erneute Bildung einer Großen Koalition in Berlin gekommen. Links Parteichef Ralph-Harry Klaer, vorne auf dem Stehtisch Exemplare des Koalitions­vertrages. Klaer verlas zum Beginn der Veranstalt­ung eine Erklärung der Bundes-SPD. Darin wurde aufgeliste­t, was die SPD aus Sicht der Verhandler durchgeset­zt hat – und was nicht.

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