Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Was vom Tausendfüßler übrig blieb
Vor genau fünf Jahren startete der Abriss der Hochstraße. Jetzt gibt es noch viele Erinnerungen – und kleine Kunstwerke aus den Resten.
Manche Menschen finden den Hamburger Hafen schön. Andere fühlen sich auf der A40 wohl. Holger Stoldt findet das schön, was er vor fünf Jahren auf eine kleine Kachel gemalt hat: den Blick auf ein paar Grafitti-verzierte Y-Stelzen und ein Stückchen Berliner Allee. Unten Straßenbahnschienen. Oben die Unterseite einer Autostraße. „*5.5.1962“hat Stoldt auf die Kachel geschrieben, und „ 24.2.2013“.
Der Morgen des 24. Februar 2013 war bitterkalt. Um fünf Uhr begann es zu schneien. Als sich um sechs eine kleine verschworene Gemeinschaft mit ihren fahrbaren Untersätzen am Fuße des Tausendfüßlers traf, war schon alles weiß. Holger Stoldt war auch dabei, in seinem Skoda Roomster. Eine letzte Fahrt über die Hochstraße – die wollte er sich nicht nehmen lassen. Der Düsseldorfer Künstler vermisst den Tausendfüßler noch heute. Oder?
„Ja und nein“, sagt Stoldt. „Ich habe es immer genossen, über den Tausendfüßler zu fahren und von oben auf die Stadt zu gucken. Links und rechts in die Schadowstraße rein. Oder bei Regen drunter zu stehen.“Der Tausendfüßler – das ist für Stoldt ein Symbol seines Düsseldorfs. „Der Jan-Wellem-Platz, das Dreischeibenhaus – da bin ich aufgewachsen.“Und auch ästhetisch schätzte er den Bau: Leicht, geschwungen, filigran sei er gewesen. Und wie Schweben sei es gewesen, über den Tausendfüßler zu fahren.
Heute vor fünf Jahren verabschiedeten sich die Düsseldorfer vom Tausendfüßler, einen Tag später begann der Abriss. Der Beschluss hatte die Stadt gespalten. Bevor die Bagger anrückten, hatten viele Menschen dem Betonkoloss einen letzten Besuch abgestattet. Er galt als Symbol für die autogerechte Stadt.
Am Tag, bevor die Bagger kamen, besuchte Stoldt den Tausendfüßler insgesamt drei Mal. Einmal mit dem Auto in aller Frühe. Und dann zweimal mit Hammer und Meißel. Einen Rucksack hatte er auch dabei. Viele Kilo Beton schleppte er davon. Und machte daraus Tausendfüßler-Andenken: eine Mini-Y-Stütze mit originalgetreuer Grafitti-Bemalung auf echtem Tausendfüßler-Stein. Bis ins vergangene Jahr kaufte immer noch mal jemand ein Exemplar. Falls die Nachfrage zum fünften Jahrestag des Abrisses noch mal steigt, ist Holger Stoldt vorbereitet: „Ich hab noch ein paar richtig dicke Steine da.“
Jetzt existiert der Tausendfüßler nur noch in der kollektiven Erinnerung. Viele Düsseldorfer haben sich ein Stück Beton mitgenommen, unzählige Fotografen verewigten die letzten Tage der Hochstraße. Der Düsseldorfer Dietmar Westerteicher dokumentierte den Abriss sogar in einem 30-minütigen Zeitraffer-Video, das bei Youtube zu finden ist. In Architektur-Lexika hat die Hochstraße sowieso ihren Platz.
Der Taxifahrer Jürgen Koll hat erst kürzlich wieder an den Tausendfüßler gedacht, als die neuen Tunnel mal wieder für Wartungsarbeiten gesperrt waren. „Das hat es in 50 Jahren Tausendfüßler nicht gegeben.“Koll kann sich gleich zwei Tausendfüßler-Leistungen zugutehalten: Er fuhr als einer der letzten Autofahrer eine Abschiedsrunde, ein unvergesslicher Moment. Und als die Straße schon für den normalen Verkehr gesperrt war, änderte er die Fahrtrichtung. „Ich war damit der einzige Geisterfahrer.“
Koll, der als „Taximann“ein Blog betreibt, kann dem Abriss trotzdem auch Positives abgewinnen: „Als Fußgänger ist das schon schön“, meint er. „Man kann auf einmal so viel Himmel sehen.“Und auch Holger Stoldt findet den Plan, die Innenstadt architektonisch zu heilen und die beiden Hälften wieder zu vereinen, eigentlich ganz gut. Eigentlich. Ob es am Ende gelingt, da ist Stoldt allerdings skeptisch. Für ein abschließendes Urteil muss er warten: Der Umbau der Innenstadt ist auch fünf Jahre nach dem Abriss nicht abgeschlossen.