Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Europas Stimme der Armen
Bettina von Arnim ist nicht nur eine bedeutende Vertreterin der deutschen Romantik. Auch als emanzipierte Frau, sozialpolitische
Vordenkerin und Netzwerkerin hat sie sich einen Namen gemacht. Sie stand sogar mit einem preußischen König in Kontakt.
Sie brauchte nur ein Buch, um innerhalb kürzester Zeit in Europa bekannt zu werden. Es ist das Jahr 1835. Soeben hat Bettina von Arnim ihr Erstlingswerk „Goethes Briefwechsel mit einem Kinde“veröffentlicht. Ihre liberalen Gedanken begeistern besonders die junge Generation. „Sie war ein richtiger Shooting-Star. So ein großer Erfolg durch nur eine einzige Veröffentlichung ist schon eine Besonderheit“, sagt Wolfgang Bunzel, Literaturprofessor und Leiter der Romantik-Abteilung im Frankfurter Goethe-Haus. „Zumal es sich um eine schreibende Frau handelt, deren Wirkungsmöglichkeiten damals eingeschränkt waren.“
Auch wenn Bettina von Arnim geahnt haben dürfte, dass der Name Goethes eine Zugkraft haben würde, ist sie von ihrem Erfolg selbst überrascht. Ihre Bekanntheit wird sie sich Jahre danach zunutze machen.
Ein europäisches Denken, also ein Denken über Landesgrenzen hinweg, wurde ihr gewissermaßen in die Wiege gelegt. Bettina wird am 4. April 1785 als Kind zweier Nationen geboren: Ihr Vater, der Großkaufmann Peter Anton Brentano, ist Italiener, ihre Mutter, Maximiliane von La Roche, eine Deutsche. Bettina lernt Französisch, kann auch ein bisschen Italienisch. Nach dem Tod ihrer Mutter wird sie in einem Kloster unterrichtet. Als auch ihr Vater stirbt, wächst sie bei ihrer Großmutter, der bekannten Schriftstellerin Sophie von La Roche auf. In jenen Jahren baut die junge Bettina einen engen Kontakt zu ihrem sieben Jahre älteren Bruder, Clemens Brentano, auf. Ihr Austausch stand im Zeichen der Frühromantik: Bettina ist schon damals auf ihre „innere Natur“bedacht, sie strebt nach Freiheit und Poesie, tritt leidenschaftlich für ihre Ansichten ein. Und wie es für die jungen Romantiker üblich ist, scheint auch für Bettina nichts unmöglich zu sein. Nach der Französischen Revolution gibt es den Wunsch nach Neubeginn: „Wäre ich König“, so schreibt Bettina in jener Zeit an Clemens Brentano, „ich würde die Welt untertauchen und sie gereinigt aus den Zeitenwogen hervorgehen lassen.“
Selbst aktiv wird sie aber erst, nach dem Tod ihres Mannes, dem Schriftsteller Achim von Arnim, mit dem sie sieben Kinder hatte. Neben Clemens Brentano und Joseph von Eichendorff gilt er als ein wichtiger Vertreter der Heidelberger Romantik. Auch Bettina von Arnim ist eine bedeutende Vertreterin der Romantik. Bettina wohnt mittlerweile in Berlin und besucht schon während ihrer Ehe Berliner Salons, in denen sie sich in einem kleinen Umfeld als interessante Persönlichkeit hervortut.
Nach ihrem erfolgreichen Goethe-Werk wird Bettina von Arnim von Studenten umschwärmt: Bald schart sie eine Reihe junger Menschen um sich. Sie sieht in ihnen die Zukunft der Menschheit und versteht sich als deren Mentorin.
Ein Herzensthema ist für sie die Bekämpfung der Massenverelendung, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein europäisches Phänomen ist. Besonders geprägt haben dürfte sie dabei das Jahr 1831, als eine Choleraepidemie über den Westen Europas hereinbricht. Auch Berlin ist betroffen. Noch weiß niemand so recht, wie mit der exotischen Krankheit umzugehen sei: Vermeintliche Wundersäfte werden verteilt und infizierte Wohnungen abgesperrt. Wer fliehen kann, verlässt die Stadt. Auch Bettina bringt ihre Kinder in Sicherheit. Sie selbst aber bleibt, um den Betroffenen zu helfen. Sie sucht die Elendsviertel der Stadt auf und versorgt die Bewohner mit Kleidung und Lebensmitteln.
„Ihre jungen Gesprächspartner möchte sie dazu bringen, dass sie an Schlüsselstellen des sozialen Systems der Gesellschaft kommen, um die Dinge in ihrem Sinne zu beeinflussen“, sagt Bunzel. Überhaupt ist Bettina von Arnim eine hervorragende Netzwerkerin. Sie steht nicht nur mit Goethe, sondern auch mit anderen Größen ihrer Zeit in Kontakt: Friedrich Schleiermacher gehört ebenso dazu wie Ludwig van Beethoven, die Brüder Grimm und Robert Schumann. „Sie sucht einen breiten intellektuellen Austausch, wenn er über Ländergrenzen hinweggeht, ist es umso besser“, sagt Bunzel. Ja, selbst mit dem preußischen König, Friedrich Wilhelm IV. steht sie in Verbindung. Er hat den Ruf, ein „Romantiker auf dem Thron“zu sein. Bettina von Arnim, die von einem Herrscher träumt, der sich für das Wohl seines Volkes einsetzt, sieht in ihm ihr Ideal von einem Volkskönig bestätigt. „Sie rechnet sich aus, Einfluss auf ihn nehmen zu können“, sagt Bunzel, „ihn wiederrum schmeichelt es, dass die berühmte Literatin mit ihm in Kontakt steht.“
So kommt es, dass Bettina ihm eine Schrift widmet. In „Dies Buch gehört dem König“macht sie in Gesprächsform auf die Missstände der Gegenwart aufmerksam, sie fordert Freiheit des Volkes und ein Ende der Armut. Darin enthalten ist ein Bericht über die Elendsviertel in Berlin. Mit einem Armenbuch, das auf Fakten basiert, möchte sie daran an
knüpfen.
Deutschlandweit ruft sie in Zeitungen dazu auf, Berichte über die soziale Situation an sie zu schicken. Unzählige Unterlagen von Klagebriefen, bis hin zu Listen mit den Namen und der Lebensumstände von verarmten Menschen, gehen bei ihr ein. Doch das Projekt scheitert: Es ist die Zeit der schlesischen Weberaufstände und Bettina von Arnim wird verdächtigt, die Proteste mit angezettelt zu haben. An eine Veröffentlichung ist nicht mehr zu denken. Dennoch kann man in ihr eine der ersten Sozialforscherinnen Europas sehen.
Erst war es die Bevölkerung, der Bettina von Arnim eine Stimme gab, später sind es die europäischen Nationen. Sie wird ein Sprachrohr der polnischen Bevölkerung. „Ihre Nation war zu damaliger Zeit von der Landkarte getilgt, Polen wurde aufgeteilt zwischen Russland, Preußen und Österreich“, erklärt Bunzel. Es gibt polnische Aufstände und Revolutionäre, die die Freiheit ihres Volkes forderten. Für sie hat Bettina von Arnim sich eingesetzt. Anonym verfasst sie eine Broschüre, in der sie französische Exilpolen zu Wort kommen lässt. Auch wenn die Schrift damals ohne großen Erfolg blieb, gilt sie heute als ein wichtiges Dokument der deutschen Polenfreundschaft. Auch für den polnischen Revolutionär Ludwik Mieroslawski, der inhaftiert wurde, hat sie sich beim König eingesetzt. Der reagiert aber mit Abwehr – „so hat er ihr die Grenzen ihres Handelns aufgezeigt“, sagt Bunzel. 1848: Die deutsche Revolution ist gescheitert, reaktionäre Kräfte gewinnen die Macht zurück und auch Bettina von Arnim verliert ihre Illusionen. In den 1850er Jahren beginnt sie sich für Ungarn einzusetzen – „eine Nation, die unter politischem Druck und Repression steht“, sagt Bunzel. Bettina von Arnim verfasst eine neue Schrift für den König: „Gespräche mit Dämonen. Des Königsbuches zweiter Band“. All das, was sie damals schon ansprach, findet in dieser Fassung eine Steigerung. Sie appelliert an sein Gewissen, für die Völkerverständigung einzutreten, eine liberale Herrschaft zu vertreten, die fremde Völker und Minderheiten nicht unterdrückt. Auch für die Emanzipation und Anerkennung der Juden setzt sie sich ein.
Ihr Buch fand damals kaum Beachtung, dennoch hat Bettina von Arnim bemerkenswertes geleistet – als emanzipierte Frau, als Schrifstellerin und sozialpolitische Vordenkerin. „Bettina von Arnim vertrat ein romantisches Staats- und Nationenverständnis“, sagt Bunzel. Wie bei einem Individuum, so sei ihrer Meinung nach auch für eine Nation, die Freiheit der entscheidende Faktor. Nur wenn eine Nation von äußeren Zwängen frei sei, könne sie sich ungebunden entfalten. „Dann würde im Konzert der Nationen gegenseitiges Verstehen eintreten und Kriege würden unterbleiben. Dann käme es zu dem, was wir heute Völkerverständigung nennen würden“, sagt Bunzel.
Und so habe Bettina von Arnim den Anstoß gegeben für ein Modell der Völkerverständigung, das erst heute in Europa – bei allen Schwierigkeiten – Wirklichkeit wird.