Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Das Haus der 20.000 Bücher
Vor allem die Ideen der Haskala entfesselten einen wahren Wirbelsturm des Wandels, nachdem sie die jüdischen Gemeinschaften Osteuropas erreicht hatten. Sie ermöglichten es einer ganzen Generation von Schtetl-Juden, Fachkenntnisse zu erwerben und ein politisches Bewusstsein zu entwickeln, in Großstädte zu ziehen und an den intellektuellen Gärungsprozessen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts teilzuhaben. Leben und Kultur der Schtetl-Juden waren so geheimnisvoll und wissenschaftlich unerforscht, dass gegen Ende der Zarenzeit Ethnografen planten, ein jiddischsprachiges Formular mit rund zweitausend Fragen in Umlauf zu bringen, damit sie die Bräuche dieses „seltsamen Volkes“untersuchen konnten, wie in Nathaniel Deutschs Buch The Jewish Dark Continent. Life and Death in the Russian Pale of Settlement zu lesen ist. Die Haskala- Bewegung nahm sich dieses „schwarzen Kontinents“(der Ausdruck stammt von Simon Dubnow) an und verankerte ihn in der Geschichte. Durch sie erhielten die Juden Osteuropas die Befähigung und das Recht, ihre eigene Geschichte niederzuschreiben.
In Chimens und Mimis Wohnzimmer wurden die von der Haskala unter den Juden entfachten Diskussionen leidenschaftlich weitergeführt – zwischen Hausbewohnern und Gästen wie auch in den abertausend Büchern, die zwischen dem unebenen Fußboden und der Decke mit ihrer abblätternden Farbe verstaut waren: Zionismus gegen internationalen Sozialismus; Assimilierung im Unterschied zum Nationalismus; Religion gegen Säkularismus; Tradition kontra Moderne; die Autorität der Rabbiner im Gegensatz zur Macht der neuen Revolutionäre. – Auf den Regalen in diesem Zimmer standen auch viele Bücher über den Holocaust und über den Antisemitismus im Allgemeinen. Hinzu kamen seltene sozialistische Bände in Übergröße – Sammlungen von Essays, Strategiepapieren und so weiter –, eine ganze Reihe davon mit Stempeln, die darauf hinwiesen, dass sie früher einer Bibliothek in Leipzig gehört hatten (Chimen muss sie kurz nach Kriegsende erworben haben). Und auf jenen Regalen fand man auch Erstausgaben der führenden Denker der FabierGesellschaft: von Harold Laski sowie Sidney und Beatrice Webb.
Hier und da zwischen den Bänden stieß man auf etwa zwei Dutzend unterschiedlich große Folianten, Kostbarkeiten, die in Anonymität untergetaucht waren. Sie enthielten etliche Tausend Originalfarbbilder aus dem deutsch-französischen Krieg von 1870 und der ein Jahr später entstandenen Pariser Kommune, darunter Karikaturen der Kommune aus englischen Zeitschriften und Seiten aus französischen Zeitungen mit diversen poli- tischen Programmen und Aufrufen zur Mobilmachung. Diese Sammlung hielt Chimen ganz besonders in Ehren. Die Einbände waren aus schwarzem Saffianleder, und auf den knubbeligen Buchrücken prangte ein rotes Rechteck, in das mit kleinen goldenen Lettern der Titel Distractions de deux sièges de Paris 1870–71 sowie, mit römischen Ziffern, die Bandzahl geprägt waren. Im Innern der Bücher fanden sich aufsehenerregende Bilder: Ein Mann von der Bürgerwehr, das Gewehr über die Schulter gehängt, zerrt eine weinende Frau durch die Straßen; preußische Soldaten mit Pickelhauben verlassen ein brennendes, geplündertes Gebäude, und auf der Straße vor ihnen liegt eine blutverschmierte tote Frau; eine Illustration von den Straßensperren zeigt die Kommunarden, deren Bajonette an eine Kanone gelehnt sind; über ihnen flattert eine rote Fahne. (Fortsetzung folgt)