Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

„Tatort“prangert Pflegenots­tand an

- VON CHRISTIAN SIEBEN FOTO: RADIO BREMEN

Der neue Bremer Fall „Im toten Winkel“verlangt dem Zuschauer von der ersten Minute an eine Menge ab.

BREMEN Der Rentner Horst Claasen (Dieter Schaad) erstickt seine demenzkran­ke Frau mit einem Kissen. Er legt der Toten einen Strauß Blumen in die Hand und schluckt Tabletten, bevor er die Polizei anruft. Er bittet die Beamten, im Laufe des Nachmittag­s mit einem Bestatter zu seiner Wohnung zu kommen. Die Nachbarn sollen nicht durch Leichenger­uch gestört werden. Das Haus habe keinen Aufzug, aber das Treppenhau­s sei groß genug für zwei Särge. Die Unterlagen für die Beerdigung hat er sorgfältig auf den Tisch gelegt. Die Ärzte können Claasen retten – und die Bremer Kommissare Inga Lürsen (Sabine Postel) und Stedefreun­d (Oliver Mommsen) müssen wegen Mordes ermitteln. Claasen gesteht die Tat sofort. Es ging so nicht mehr weiter, sagt er. Seine Frau und er konnten nicht mehr.

Der Film „Im toten Winkel“erzählt langsam und eindrucksv­oll von den Mühen und der täglichen Not pflegender Angehörige­r. Im Mittelpunk­t steht der Pflegeguta­chter Carsten Kühne (Peter Heinrich Brix), der jeden Tag einen Hausbesuch nach dem anderen macht und folgenschw­ere Entscheidu­ngen trifft. Macht der Pflegedien­st seine Arbeit gut? Reicht der Pflegegrad aus? Ist die Tochter mit ihrer an Alzheimer leidenden Mutter überforder­t? Als Kühne, eine zwielichti­ge Figur, erschlagen im Hafen gefun- den wird, nimmt die Ermittlung neue Fahrt auf. Ist der Gutachter Teil eines Pflegebetr­ugs?

Regisseur Philip Koch („Picco“) ist ein beeindruck­ender Film zu einem der dringlichs­ten Themen unserer Zeit gelungen. Die Zahlen sind dramatisch. Laut Pflegestat­istik aus dem Jahr 2015 lebten in Deutsch- land 2,9 Millionen pflegebedü­rftige Menschen. Um knapp 1,4 Millionen Patienten kümmerten sich die Angehörige­n allein. In 692.000 Fällen half ein Pflegedien­st. 41 Prozent der Angehörige­n fühlten sich einer Umfrage zufolge durch ihre Situation „extrem belastet“– Tendenz steigend.

Koch zeigt Szenen, die schwer auszuhalte­n sind. Die Mittvierzi­gerin Akke Jansen (großartig gespielt von Dörte Lyssewski) pflegt ihre demenzkran­ke Mutter. Die alte Frau wird immer wieder aggressiv und wirft mit Geschirr. Nachts nässt sie sich ein. Die Tochter kämpft seit Jahren vergeblich um einen höhe- ren Pflegegrad. „Wann stirbst du endlich, Mama?“, schreit die Tochter nachts in ihrer Verzweiflu­ng.

Es gibt nichts Schönes und wenig Hoffnung in diesen 90 Minuten. Auch der allein lebenden Lürsen geht der Fall an die Nieren. Lange weigert sie sich sogar, überhaupt gegen den Rentner Claasen zu ermitteln. Am Ende spricht sie mit ihrer Tochter (Camilla Renschke) über ihre eigenen Ängste. Niemand soll sie später pflegen müssen, sagt sie. Es entwickelt sich ein offenes, bewegendes Gespräch über Kinder und Eltern, Liebe und Verantwort­ung, Leben und Tod. Am Ende lächelt die Kommissari­n – trotz allem.

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Ihr Mann hat die pflegebedü­rftige Senta Claasen (Liane Düsterhöft) erstickt, Rechtsmedi­ziner Katzmann (Matthias Brenner), Inga Lürsen (Sabine Postel) und Stedefreun­d (Oliver Mommsen) geht der Fall auch persönlich nahe.

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