Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Das Haus der 20.000 Bücher
Ein frommer Jude konnte an Eretz Israel (das Land Israel) glauben oder sich, wie der junge Yehezkel, bemühen, die Qualen und Ängste der Gegenwart auszulöschen, indem er sich mehr und mehr in die Talmud-Gelehrsamkeit vertiefte. Yehezkel – der schon in jungen Jahren als illui (Wunderkind) entdeckt worden war; den man als jungen Erwachsenen als gaon (Genie) kannte; der im Alter als gadol (großer Mann) und posthum von seinem Biografen Aaron Sorsky als ein von Engeln behüteter „König“bezeichnet wurde – verbrachte oftmals über zehn Stunden täglich im Studierzimmer der Jeschiwa und las bei Kerzenschein bis spät in die Nacht aramäische und hebräische Kommentare. Er wollte nichts mit der irdischen Welt zu tun haben, und bevor die alles verzehrenden Feuer des Ersten Weltkriegs dies unmöglich machten, gelang es ihm viele Jahre lang, die Missklänge um sich herum großenteils auszublenden. Schließlich war er durch die Jeschiwas in Disziplin geschult: Dazu gehörten Geldstrafen, Ohrfeigen vom Rabbiner und sogar Schulverweise wegen sündhafter Vergehen wie „Zeitverschwendung“(zum Beispiel durch Kartenspiele oder die Lektüre belangloser nichtreligiöser Texte). „Die Schüler“, schrieb Shaul Stampfer in Lithuanian Yeshiwas of the Nineteenth Century, „sollten jeden Moment auf das Lernen verwenden.“Das Studium war zumeist unstrukturiert; die Schüler besuchten einige Stunden wöchentlich shiurim (Vorlesungen) der rabbinischen Gastgelehrten, doch ansonsten erwartete man, dass sie ihrem eigenen Zeitplan folgten. Laut Stampfer befassten sich viele von ihnen über achtzehn Stunden täglich damit, wichtige Texte zu verstehen – sie galten schlicht als matmidim (ewige Studenten). Zu ihnen gehörte auch Yehezkel mit seiner Fähigkeit, erstaunliche Textmengen im Gedächtnis zu behalten: ein junger Mann, der sich voll und ganz auf sein Studium konzentrierte und kein Interesse an den folgenreichen politischen Ereignissen jenseits der Jeschiwa-Mauern hatte.
Fast ein Jahrhundert später erinnerte sich Chimen im hohen Alter an den Argwohn, mit dem Yehezkel der säkularen Erziehung begegnete: „Naturwissenschaften waren für ihn mehr oder weniger statthaft – im Gegensatz zu den Geisteswissenschaften, denn durch diese büßte man Frömmigkeit ein.“Als mein Vater sich am Trinity College in Cambridge eingeschrieben hatte, um Physik zu studieren, befragte Yehezkel ihn einige Male zur Relativitätstheorie. Aber als Chimen 1935 nach Jerusalem gereist war, um Philosophie und Geschichte zu studieren, hatte Yehezkel alles andere als begeistert reagiert. „Ich handelte gegen seinen Wunsch“, erzählte Chimen. „Ich besuchte eine Universi- tät, worüber er nicht sonderlich erfreut war. Er wollte, dass junge Männer auf eine Jeschiwa gingen. Wir waren unterschiedlicher Meinung.“
In seiner Jugend hatte Yehezkel das Gefühl gehabt, in den Jeschiwas vor der häufig grausamen Wirklichkeit geschützt zu sein. Viele nichtreligiöse Juden hingegen, die die Pogrome um die Jahrhundertwende miterlebt hatten, verspürten den Drang, politisch aktiv zu werden. Die Ereignisse erschwerten es den Juden Russlands, unbeteiligte Zuschauer zu bleiben. „Wir fordern bürgerliche Gleichberechtigung und Gleichstellung vor dem allgemeinen Gesetz als Personen, die sich allen Widerständen zum Trotz ihrer Menschenwürde bewusst sind, und als pflichtbewusste Bürger eines modernen Staates“, schrieben die Verfasser der Erklärung jüdischer Bürger von 1905.
(Fortsetzung folgt)