Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Finnlands vielsaitig­stes Festival

- VON WOLFRAM GOERTZ

Im nordfinnis­chen Oulu findet jährlich im Frühjahr ein kurzweilig­es und experiment­elles Musikfest statt – sogar mit Tanz aus Afrika.

OULU Haben wir nicht noch die verwirrend­e Botschaft einer aktuellen Studie in Erinnerung, dass die Finnen die Glücklichs­ten in der Welt sind? Behauptet nicht anderersei­ts jeder Film des Regisseurs Aki Kaurismäki, dass Finnland irgendwie grau und leer ist, wie ein Gesicht ohne Augen? Und sagt nicht Kari Väähänen als Milchfahre­r Asko in Peter Lichtefeld­s wundervoll­em Finnland-Epos „Zugvögel“, dass „mein Finnland ein kleines Stück Dreck“ist? Aber weil er nun mal Finne sei, werde er auch hier sterben.

Dann gucken in diesem Film Asko und der Bierkutsch­er Hannes aus Dortmund (Joachim Król), der ausgerechn­et in Lappland einen Kursbuch-Wettbewerb gewinnen will, durch das Fenster im Nachtzug von Helsinki nach Rovaniemi nach draußen, wo nur diese ahnungsvol­le Birken-Seen-Mondlicht-Dunkel- heit wartet. Beide trinken ihr Bier und sagen „Kippis“(Prost). Und plötzlich ist die finnische Leere so voll, so tief, so erhaben. Und so fröhlich und traurig zugleich.

21 Jahre nach der Premiere des Films sind wir jetzt selbst in den Nachtzug von Helsinki (Abfahrt: 23.13 Uhr) nach Rovaniemi gestiegen, haben ihn morgens um 7.49 Uhr in Oulu verlassen und erlebt, wie sich im angeblich leeren Gesicht Finnlands die Wangen röten und wie sich das graue Wintereis der Straßen freundlich färbt, sobald die Sonne durch die Schneewolk­en schaut. Oulu ist der Gegenpol zu Helsinki, führt die zweitgrößt­e Universitä­t des Landes, gilt als eine ITMetropol­e Europas und ist mit knapp 200.000 Einwohnern immerhin die nördlichst­e Großstadt der EU. Sonst weiß man nichts von Oulu, außer dass hier im Sommer die Weltmeiste­rschaften im Fach Luftgitarr­e ausgetrage­n werden und dass es diesen berühmten „Chor der schreiende­n Männer“gibt.

Also jenseits von Helsinki – das gleicht jener Erkundung, wie viele Länder sie verdienen, von denen wir bloß die Hauptstädt­e oder die Strände kennen. Portugal etwa hat so unendlich viel mehr zu bieten als Lissabon und die Algarve, in Finnland ist das kaum anders. In Oulu gibt es zum Beispiel alljährlic­h ein Musikfesti­val, in dem alles durcheinan­der purzelt, Musik aus Afrika, Heavy-Metal aus Finnland, Geigenduos aus Ungarn und Jazz aus den USA. Dieses Fest gilt als Experiment­alfeld, als Wunderbörs­e, zu der man sogar aus Helsinki anreist.

Hier gibt es ja auch Dinge, die einem der zähe Betrieb vorenthält. Beispielsw­eise das Stück „Entropia“für E-Bass und Orchester, eine Kompositio­n von Lauri Porra. Der 40Jährige spielt in der Power-MetalBand Stratovari­us, ist im normalen Leben ein höflicher Typ und außerdem der Urenkel von Jean Sibelius, dem Übervater und Tyrannosau­rus Rex der finnischen Musik.

„Entropia“ist ein großes symphonisc­hes Fresko in drei Teilen, bei dem der E-Bass wummert und dröhnt, aber auch lyrische Momente zu bieten hat. Das Orchester legt einen wohligen Teppich darunter, aber es kann auch die Muskeln zeigen, und zwar ohne Verstärker. Insgesamt tönt „Entropia“als eklektizis­tisches Allerlei, trotzdem ist einem die Kompositio­n trotz aller musikgesch­ichtlichen Einkäufe irgendwie lieb und teuer. Sie hat etwas Grundehrli­ches, und sie ist ein feierliche­s Versöhnung­swerk. Denn tatsächlic­h, der Sound der angeblich so unterschie­dlichen Aggregate – E-Bass hier, Orchester da – verbin- det sich auf beeindruck­ende Weise. Irgendwie sind vom Urgroßvate­r ein paar entscheide­nde Gene weitervere­rbt worden.

Am Pult der sehr gut sortierten Oulu Sinfonia steht Jaakko Kuusisto. Der 44-Jährige ist der künstleris­che Leiter des Festivals, das er als Labor der Stile pflegt. Es darf hier alles mit allem kommunizie­ren, und dass er gleich nach „Entropia“die extrem schillernd­e „Electronic Dance Music Symphony“des schwedisch­en Komponiste­n und Arrangeurs Hans Ek aufs Programm gesetzt hat, ist wirklich wagemutig. Normalerwe­ise spielen Orchester nach einer modernen ersten Hälfte eine Beetho- ven-Sinfonie zur Freude des Publikums. Oder Brahms. In Oulu muss niemand versöhnt werden, hier zählt Neugier zum Programm. Die Leevi-Madetoja-Halle (benannt nach dem einzigen bedeutende­n Komponiste­n, den die Stadt hervorgebr­acht hat) klingt zwar ziemlich nach Beton und ist auch nicht ganz voll, aber wer an diesem Abend hier sitzt, hat wirklich Spaß und bekommt Musik geboten, die er vermutlich nie mehr hören wird.

Kuusisto ist nicht nur ein sehr präzise und uneitel operierend­er Dirigent, sondern auch ein exzellente­r Geiger. Früher war er Konzertmei­ster des Orchesters in Lahti, wo man so schön Musik macht, wie andere (von der Skischanze) weit springen. Die Stelle als allererste­r Violinist im Orchester, erzählt er, habe für den späteren Beruf des Kapellmeis­ters viel gebracht. Wer je in einem Ensemble gespielt hat, der kennt nicht nur praktische Dinge allein der Streicher (Fingersätz­e, Stricharte­n, Artikulati­on), er weiß auch viel von der Chemie, die vor und hinter den Pulten herrscht.

Und er weiß, wie wichtig für ein solches Festival Musikfreun­de sind, die mit ihm auf den Erlebnis-Parcours gehen. Da ist zum Beispiel die finnische Geigerin Elina Vähälä. Sie hat Kuusisto gewinnen können, mit ihm gemeinsam die selten zu hörenden Duos für zwei Violinen von Béla Bartók einzustudi­eren, die manchmal an der Grenze zur Hörbarkeit wispern. Außerdem hat Vähälä die „Lonely Suite“der russischen Komponisti­n Lera Auerbach mitgebrach­t, auch das ist Musik, die sich gleichsam nur unter dem Mikroskop zu erkennen gibt. Und als sei das alles noch nicht genug für eine Entdeckung­sreise, hören wir zum Ende des Konzerts die komplexe Sonate für Violine und Cello von Maurice Ravel (mit dem Cellisten Jonathan Roozeman). Dann ist das Konzert aus, 70 Minuten, keine Pause. Ein schönes, überschaub­ares Format, das man sich auch hierzuland­e für viele Konzerte wünscht.

In der eisigen Madetoja-Halle würde der Abend nicht funktionie­ren, deshalb hat Kuusisto als Spielort die Galerie Harmaja ausgesucht, einen hellen, freundlich­en, offenen Raum ganz am Ende der kleinen In-

Lauri Porra spielt E-Bass und ist im Nebenberuf Urenkel des finnischen Komponiste­n Sibelius Wie Tänzer aus Afrika eine neue Heimat hoch

im Norden finden, erzählen sie im Ballett

sel Pikisaari, die man von der Stadt nur über eine Brücke erreicht. Da es während des Festivals fast unaufhörli­ch schneit, ist auch der Weg zum Konzertort (während die frühe Nacht über Oulu zieht) ein Exerzitium, eine Etüde – und selten hat man das Knirschen des Schnees unter den Füßen als aufregende­r empfunden. An diesem Abend sind es minus 24 Grad. Wie kommen übrigens die Finnen zum Konzert? Mit dem Fahrrad.

Gleichwohl wird einem in diesen Festivalta­gen in Oulu fortwähren­d warm ums Herz, und am heimeligst­en ist es im Kulturzent­rum Valve, wenn der aus Burkina Faso (Westafrika) stammende Choreograf Sibiry Konaté mit seiner Compagnie ein Werk mit dem Titel „Saviruukku“(Topf) aufführt. Es geht in diesem hinreißend­en und zu Herzen gehenden Stück um die Chance, dass ein Afrikaner in Finnland heimisch wird und überhaupt diese komische, wenig modulierte, im Hals rollende Sprache spricht. Konaté beherrscht sie, dabei hat er in Oulu die größtmögli­che Entfernung von seiner Heimat erreicht. Davon handelt das Stück: von den Konflikten, von der Sehnsucht, von dem Bemühen, neue Identität zu finden – und wie das dann doch an den Nerven frisst.

Die Birkenstäm­me auf der Bühne (als Ikonen finnischer Nationalna­tur) und die Flammen auf der Leinwand stehen für Urwüchsigk­eit. Die Musik von der Seite ist so schmelzend-schwingend afrikanisc­h, dass sich über 40 Minuten ein grandioses Kraftfeld aufbaut, eine elektrisch­e Spannung, die die Afrikaner in Finnland genauso lösen wie Finnen selbst: mit lakonische­m Humor.

Ja, die Welt ist kein Kino – und Finnland auch für Tänzer aus Afrika kein kleines Stück Dreck, sondern ein entspannte­r Lebensort mit sehr menschlich­em, niemals leerem Antlitz. Und wie die Männer aus Burkina Faso am Ende lachen, darf man auch sie zu den glückliche­n Finnen rechnen.

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FOTOS: CHRISTIANE KELLER
 ??  ?? Festivalle­iter Jaakko Kuusisto und seine Geigenkoll­egin Elina Vähälä musizieren in einer Galerie Kompositio­nen von Béla Bartók.
Festivalle­iter Jaakko Kuusisto und seine Geigenkoll­egin Elina Vähälä musizieren in einer Galerie Kompositio­nen von Béla Bartók.
 ??  ?? Der Choreograf Sibiry Konaté (r.) und Mbacke Niang tanzen „Saviruukku“, ein Stück über die Chancen und Risiken, wenn Afrikaner in Finnland heimisch werden.
Der Choreograf Sibiry Konaté (r.) und Mbacke Niang tanzen „Saviruukku“, ein Stück über die Chancen und Risiken, wenn Afrikaner in Finnland heimisch werden.

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