Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Das Haus der 20.000 Bücher
Die Partei wollte Levys Buch Jews and the National Question (an dessen Entstehung Chimen hinter den Kulissen mitgewirkt hatte) nicht veröffentlichen, weshalb mein Großvater beschloss, den Band in dem kleinen Verlag, den er von zu Hause aus betrieb, herauszubringen. Er hatte die Hillway Publishing Company einige Jahre zuvor gegründet, um ein Werk des regimekritischen ungarischen Philosophen Georg Lukács in englischer Übersetzung zu publizieren: Studies in European Realism. Mit der Übersetzung hatte er eine freie Journalistin namens Edith Bone beauftragt; sie war in den ersten Nachkriegsjahren von der kommunistischen Führung Ungarns der Spionage bezichtigt worden und hatte sieben Jahre in Einzelhaft verbringen müssen, bevor man sie 1956 freiließ. Chimen sorgte dafür, dass Levys Buch aus dem Englischen in eine Reihe anderer Sprachen übersetzt wurde. Später druckte Jean-Paul Sartres Zeitschrift Les Temps Modernes Teile des Textes auf Französisch nach, allerdings neben einem langen Artikel von R. Palme Dutt, in dem dieser Levy und Chimen auf sehr persönliche Weise angriff. Was für Lukács galt, der eine Zeit lang zu den einflussreichsten Intellektuellen Europas zählte, traf auch auf Levy zu: Das Buch erschien genau zur rechten Zeit. Es wurde in New York, Mailand und Israel veröffentlicht und fand erhebliche Beachtung. In einem kleinen Notizheft, nicht größer als seine Jahrestagebücher, verzeichnete Chimen gewissenhaft die Verkaufszahlen.
Hatte Chimen einst geglaubt, dass man die Partei von innen her reformieren und Fortschritt durch eine nachhaltig marxistische Organisation erzielen könne, verstärkte sich nun jedoch sein Eindruck, dass die politische Institution als solche eine Bedrohung darstelle und dass es der Revolution beschieden sei, eine scheußliche Gestalt mit kannibalistischen Zügen anzunehmen. Ein paar Jahre darauf, als er sich dem Kommunismus weiter entfremdet hatte, beklagte er in einem Brief an Isaiah Berlin „die Tragödie von Intellektuellen wie uns. Wir sind die ineffektiven Kräfte der Gesellschaft. Die Lenins, Titos, Maos, Castros triumphieren, und wir armen Liberalen werden ausrangiert“.
In einem Anfall brudermörderischer Wut vernichtet er C. Allen und seine anderen Pseudonyme. Er wird schlicht und ergreifend wieder zu Chimen Abramsky.
Der Salon lag vorübergehend brach. Alte Freunde, die in der Partei geblieben waren, wollten nichts mit Leuten zu tun haben, die sie für Abtrünnige hielten. Neue Freunde hatten sich noch nicht eingestellt. Chimens Briefe lassen ahnen, dass sich ein unbehagliches Schweigen über den Hillway senkte. Während sich der kommunistische Salon auflöste – die erste Inkarnation des Hillway, sozusagen seine erste Republik –, eröffnete der dreiundzwanzigjährige Raph, der alle und jeden in seinem Umfeld mit „Genosse“ansprach, seinen eigenen Versammlungsort: das Partisan Café in der Carlisle Street in Soho, einen bohemehafteren, wenn auch gewerbsmäßigen Ersatz. „Raph konnte einem das Ohr abkauen“, sagte Hobsbawm – und er konnte auch manch einen überreden, Zeit und Geld in höchst spekulative Vorhaben zu investieren.
Hobsbawm ließ sich bewegen, etwas Geld in das Unternehmen zu stecken, und erhielt dafür den Titel Café-Direktor. Er war nicht der Einzige, der Raphs Projekt finanziell unterstützte. „Schuhe!“, erinnerte sich Martin Mitchell über ein halbes Jahrhundert später. „Ohne die Schuhe wäre es schwieriger gewesen, einen millionenschweren Wohltäter aufzutreiben. Es war so: Eines Morgens meldete sich Lilys [so hieß Mitchells Frau] Cousin Raphael oder Ralph [sic!], wie er sich später nannte, mit einem dringenden Anruf. ,Lily, kannst du mir helfen? Meine Schuhe fallen auseinander. Man sieht meine Zehen. Ich brauche ein anständiges Paar Schuhe. Heute Vormittag treffe ich mich mit Howard Samuel und hoffe, dass er mir Geld für den Pachtvertrag gibt. Ich möchte vorzeigbar sein. Er soll nicht sehen, dass meine Zehen herausragen. Bitte, hilf mir.’ ,Natürlich’, sagte Lily. ,Du kannst Martins Schuhe tragen.’ Genau das tat er, und er bekam ein nettes Sümmchen von dem linksgerichteten Immobilienmillionär. Auch auf einer Besprechung in einem Ausschusssaal des Parlaments wurde Geld lockergemacht.“
„Es war ein wunderbarer Treffpunkt. Alle sind damals dorthin gegangen“, bestätigte Hobsbawm mit Blick auf seinen Abstecher in den Risikokapitalismus. „Im Grunde ging es darum, ein Haus zu erwerben. Es sollte zum Hauptquartier werden, Ort bahnbrechender Debatten und Ausgangspunkt revolutionärer Aktionen.“In der oberen Etage sollte die New Left Review ihre Redaktion haben, während das untere Stockwerk als Ort der Begegnung vorgesehen war. In einer Zeit, als die Vorstellung von einem politischen Versammlungshaus samt Café so exotisch wirkte, dass die BBC ein Kamerateam entsandte und Raph zu seinen Zielen befragen ließ, wurde das Partisan zu einer Auffangstelle für mittellose Intellektuelle, die vorbeikamen, um zu debattieren, Schach zu spielen, die Zeitung zu lesen . . . und um eine Tasse recht mittelmäßigen Kaffees über den ganzen Tag zu strecken. Architektonisch neigte man dem zu, was Hobsbawm „brutalen Modernismus“nannte: Der riesige Raum war nüchtern, Stühle waren wahllos verteilt. Mitchell erinnerte sich, dass die Geschäftsführer, die sich für besonders ausgefuchst hielten, als Sicherheitschef einen Mann anheuerten, der sich damit brüstete, Einbrüche begangen zu haben. Denn wer könnte besser geeignet sein als ein Einbrecher, wenn es darum ging, ein Haus sicher zu machen? Tatsächlich blieben Fenster und Schlösser intakt, doch ziemlich bald nach der Einstellung des Mannes kamen Lebensmittel in der Küche abhanden.
Kein Wunder, dass das Café nach kurzer Zeit pleiteging und 1962 schloss. „Es fehlte nicht an Gästen, aber leider waren die Ausgaben höher als die Einnahmen. Wenn wir uns beschwerten, dass das Unternehmen sich nicht trage, winkten sie immer wieder ab, bis sie bankrott waren“, berichtete Hobsbawm, mit dem ich mich einige Monate vor seinem Tod in seinem Haus in Nord-London unterhielt. Viele Stammgäste des Partisan, die von dem behaglichen Ambiente des Hillway zur Boheme in Soho übergewechselt waren, kehrten nun zurück, um ihre Abende in Mimis Esszimmer zu verbringen. Die Ordnung dürfte wiederhergestellt gewesen sein.
(Fortsetzung folgt)