Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Das Haus der 20.000 Bücher

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Ein Exemplar hatte anscheinen­d einst der Jewish Theologica­l Society in New York gehört, aber es war bei einem Brand zerstört worden. Schließlic­h empfahl ihr Katz, Aptroots Doktorvate­r, sich an Chimen zu wenden. Das tat sie, und er schickte ihr sofort eine Antwort. Ja, das Buch befinde sich in seiner Sammlung, und sie dürfe ihn gern in London aufsuchen, um es sich anzusehen.

Aptroot vereinbart­e einen Termin mit Chimen. Kaum hatte sie das Haus betreten, führte er sie sogleich ins obere Wohnzimmer. Dort unterzog er sie (so schien es ihr jedenfalls) einer Art Aufnahmepr­üfung. „Er öffnete das eine oder andere Buch und fragte: ›Was ist das?‹, um mich auf die Probe zu stellen. Ich bestand den Test. Wir tranken Kaffee, und dann ließ er mich oben mit den Büchern arbeiten.“Sie kam noch mehrere Male vorbei, um die Texte der beiden Ausgaben zu vergleiche­n. „Er lud mich immer nach unten zum Mittagesse­n ein. Dann kehrte ich nach oben zurück und arbeitete weiter. Er bat mich hinunter zum Tee, und bald darauf verabschie­dete ich mich.“Im Hillway bestätigte sich, dass ihr Argwohn gerechtfer­tigt war: Die Erstausgab­e – deren einziges bekanntes Exemplar sich irgendwie in Chimens Sammlung eingefunde­n hatte – war von einem Mann finanziert worden, der einige Seiten als Pfand zurückhiel­t. Nachdem er sich mit dem Verleger überworfen hatte, beschloss er, eine eigene Bibel-Ausgabe zu veröffentl­ichen, wozu er manche der Seiten in seinem Besitz verwendete, um die beiden Ausgaben unterschei­dbar zu machen. Chimen war hocherfreu­t über die Entdeckung. Sie ließ die Verleger, die dreihunder­t Jahre zu- vor tätig gewesen waren, lebendig wirken und brachte Dramatik in ihre Schicksale. Aptroot zufolge fand er es „aufregend, vom Standpunkt der Bücherkund­e aus betrachtet“. Die beiden begannen einen Briefwechs­el auf Jiddisch, und wenn Aptroot zu Besuch kam, verfielen sie häufig in die mameloshen. „Er war so nett und hatte ein offenes Haus. Es war wunderbar, Dinge mit ihm zu bereden. Er wusste eine Menge, und Freunde wurden wir auch.“

Als Erwachsene­r hatte sich Chimen überwiegen­d durch Marx’ Aufruf zum Handeln lenken lassen: „Die Philosophe­n haben die Welt nur verschiede­n interpreti­ert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“Nun, im Alter, machte er einen behutsamen Wandel durch. Immer öfter suchte er moralische Anleitung nicht bei Marx, sondern bei Spinoza. „Zu sein ist zu handeln, und zu wissen ist zu handeln“, hatte Spinoza im späten 17. Jahrhunder­t an seinem Schreibtis­ch in Amsterdam formuliert. Dies war ebenfalls ein Aufruf zum Handeln, aber nicht mehr eine explizite Aufforderu­ng zur Revolution. Chimen nahm weiterhin lebhaften Anteil an der Welt um sich herum, sah sich jedoch nicht mehr genötigt, die Säulen des Tempels ins Wanken zu bringen.

So wurde das obere Wohnzimmer schließlic­h anstelle des Schlafzimm­ers zum intellektu­ellen Mittelpunk­t des Hillway. Als Chimen schon sehr alt war, benötigte er ständige Pflege, um weiterhin im Hillway wohnen zu können. Damit er sich die Betreuung leisten konnte, ließ er eine Handschrif­t aus dem 12. Jahrhunder­t in New York versteiger­n. Daraufhin wurde der Raum erneut zu einem Schlafzimm­er, doch nun für eine Reihe von osteu- ropäischen Pflegekräf­ten, Wirtschaft­sflüchtlin­gen aus der ehemaligen Sowjetunio­n und ihren Satelliten­staaten. Hin und wieder wagte Chimen sich noch in das Zimmer vor, besonders wenn seine alten Freunde von Sotheby’s vorbeikame­n, um ihm Manuskript­e zu zeigen. Dann flammte seine Begeisteru­ng wieder auf und er wies die Pflegekraf­t an, ihm auf den Treppenlif­t zu helfen und ihn anzugurten. Dann drückte er auf den Startknopf und sauste – zum Entsetzen derjenigen, die von unten zusahen – so schnell es ging hinauf in die erste Etage. Oben wurde er losgegurte­t und wankte dann mit unendliche­r Feierlichk­eit in das Zimmer, um nach verborgene­n Schätzen zu suchen.

Aber so weit sind wir noch nicht. Chimen, der seine Judaica-Sammlung ausbaute, hatte noch einiges zu erledigen, und die Türen zu Mimis und seinem Salon würden noch etliche Jahre offen stehen.

Wiederbege­gnung mit dem Esszimmer Neugeburt Wir können dann sagen, dass der Rationalis­mus . . . die Einstellun­g oder die Bereitscha­ft eines Menschen ist, auf kritische Argumente zu hören und von seinen Fehlern und aus seinen Erfahrunge­n zu lernen. Der kritische Rationalis­mus ist also grundsätzl­ich eine Bereitscha­ft, die ich folgenderm­aßen beschreibe­n möchte: „Ich kann mich irren und du kannst Recht haben. Aber wenn wir uns bemühen, dann können wir gemeinsam der Wahrheit vielleicht etwas näher kommen.“

Karl Popper, Die offene Gesellscha­ft und ihre Feinde (1945)

Während sich Chimens und Mimis politische Einstellun­g wandelte und für meinen Großvater das Büchersamm­eln in den Vordergrun­d rückte, erhielten die Zusammenkü­nfte im Hillway einen anderen Anstrich. Viele ihrer engsten Freunde aus der Kommunisti­schen Partei hatten in den Jahren nach 1956 ebenfalls ihren Austritt erklärt. Aber die meisten derjenigen, die ihre Mitgliedsc­haft nicht aufgegeben hatten, tauchten nicht mehr im Hillway auf. Manch einer wollte nichts mehr mit den Abramskys zu tun haben. Parteiführ­er wie Harry Pollitt – dem Chimen neun Jahre zuvor ein Exemplar von Churchills Memoiren geschickt hatte („Viel Vergnügen bei der Lektüre dessen, was der ,Schuft’ zu sagen hat“) – und R. Palme Dutt betrachtet­en alle, die ihre Parteibüch­er zurückgege­ben hatten, als Wendehälse, Abtrünnige und Klassenver­räter und rieten ihren Anhängern, sich von diesen Individuen fernzuhalt­en. Diese Personen, schrieb Dutt geringschä­tzig im Labour Monthly, seien verblendet­e Träumer. „Zu glauben, dass sich eine große Revolution ohne eine Million Gegenström­ungen, ohne Bedrängnis, Ungerechti­gkeiten und Exzesse entwickeln könne, wäre eine Wahnvorste­llung, die sich nur für Elfenbeint­urmbewohne­r im Märchenlan­d eignet, denn sie müssen noch lernen, dass man sich auf dem Dornenpfad des menschlich­en Fortschrit­ts nicht nur mit beispiello­sem Heldentum voranbeweg­t, sondern dies auch mit Gemeinheit, Tränen und Blut einhergeht.“Für alle, die das Blutvergie­ßen nicht mehr ertragen konnten, die meinten, ihre Ideale seien in den Dreck getreten worden, hatte Dutt nichts als Hohn übrig.

(Fortsetzun­g folgt)

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