Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Alarmstufe Schwarz-Rot im Bundestag

- VON GREGOR MAYNTZ

Weil Union und SPD bei einer Abstimmung um ein Haar ihre Mehrheit verlieren, wird es ausnahmswe­ise hektisch im Plenum.

BERLIN Sitzungspr­äsidentin Claudia Roth von den Grünen will eigentlich gestern nur die Mehrheitsv­erhältniss­e zu einer parlamenta­rischen Petitesse feststelle­n. Soll der Gesundheit­sausschuss federführe­nd über die Gleichstel­lung schwuler und lesbischer Paare bei der Kostenüber­nahme künstliche­r Befruchtun­g beraten oder der Familienau­sschuss? Eigentlich scheint die Mehrheit klar: Union und SPD wollen den Gesetzentw­urf der Grünen in den Gesundheit­sausschuss bringen, die Opposition in den Familienau­sschuss. Doch die theoretisc­he Mehrheit hat in diesem Augenblick mit der realen Mehrheit im Plenarsaal aus mancher Perspektiv­e wenig zu tun. Viele Abgeordnet­e sitzen in den Reihen von AfD, FDP, Grünen und Linken – aber nur wenige bei Union und SPD.

Gleichwohl stellt Roth fest, dass der Antrag der Koalition gegen die Stimmen von Linken, Grünen, FDP und AfD angenommen sei. So ist es üblich. Es ist ohnehin immer ein Kommen und Gehen, da verlässt man sich lieber auf die bekannten Mehrheitsv­erhältniss­e. Doch hier scheint das Auseinande­rklaffen von Annahme und Beleg doch zu eklatant zu sein. Die AfD bezweifelt, dass Roth die Entscheidu­ng des Plenums richtig erfasst hat. Offenkun- dig hatte Roth auch nicht das sicherste Gefühl. Sie lässt gegen Protestruf­e aus der Koalition die Abstimmung wiederhole­n. Für manche Zuschauer ist das Ergebnis wieder eindeutig: Linke, Grüne, FDP und AfD bringen mehr Stimmen zusammen als die große Koalition, die nach der Bundestags­wahl schon sehr klein geworden ist und deren Präsenz im Plenum in diesem Augenblick eher mickrig erscheint.

Das Sitzungspr­äsidium diskutiert. „Verwirrend“sei das aus dieser Perspektiv­e. Die Politikerr­eihen bei der Opposition gehen eindeutig weiter hinauf, die der Koalition mehr in die Breite. „Wir sind uns nicht einig“, lautet die diplomati- sche Umschreibu­ng von Roth über die Wahrnehmun­g der aktuellen Mehrheitsv­erhältniss­e. Und deshalb ordnet die Bundestags­vizepräsid­entin einen sogenannte­n Hammelspru­ng an. Der ist benannt nach einem Gemälde über dem Eingang zum Plenarsaal des alten Reichstags­gebäudes und besagt ganz einfach, dass nun alle Abgeordnet­en den Raum verlassen und durch drei Türen wieder reinkommen. Durch eine für Ja, eine für Nein oder durch eine für Enthaltung. Damit kann zweifelsfr­ei die Zahl der Stimmen gezählt werden.

So weit die Theorie. Doch schon die immer dringender werdenden Appelle der Sitzungspr­äsidentin, nun bitte den Saal zu verlassen, zeigen, dass die praktische Ausführung zumeist anders verläuft. Während die Opposition­sabgeordne­ten zügig in die Lobby gehen, sind Abgeordnet­e von Union und SPD noch mit intensiven Gesprächen befasst. Die Aufforderu­ngen von Roth scheinen sie nicht wahrzunehm­en. Das Manöver ist klar: Spiel auf Zeit.

Im Hintergrun­d wird nun hektisch telefonier­t. Die parlamenta­rischen Geschäftsf­ührungen von Union und SPD versuchen, die Abstimmung­sniederlag­e zu verhindern. Auch Roth bekommt einen weiteren Hinweis. Gerade tage doch parallel der Ältestenra­t des Bundestage­s, und auch dessen Mitglieder würden gerne am Hammelspru­ng teilnehmen. Nun schellen die Abstimmung­sklingeln auf den Fluren aller Bürogebäud­e des Bundestage­s. Überall lassen die Abgeordnet­en alles stehen und liegen. Konferenze­n, Sitzungen, Gespräche werden unterbroch­en. Und wo eben noch gähnende Leere vor dem Plenarsaal herrschte, wird es binnen Minuten immer enger. Um 14.07 Uhr hat Roth zum „Hammelspru­ng“aufgerufen, um 14.29 Uhr ist er endlich gelaufen: Die Koalition bringt 322 Politiker auf die Beine, die Opposition 251. Gerade noch mal gut gegangen für die klein gewordene große Koalition. Aber sie hat erneut erlebt, auf welch dünnem Eis sie arbeitet.

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