Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Alarmstufe Schwarz-Rot im Bundestag
Weil Union und SPD bei einer Abstimmung um ein Haar ihre Mehrheit verlieren, wird es ausnahmsweise hektisch im Plenum.
BERLIN Sitzungspräsidentin Claudia Roth von den Grünen will eigentlich gestern nur die Mehrheitsverhältnisse zu einer parlamentarischen Petitesse feststellen. Soll der Gesundheitsausschuss federführend über die Gleichstellung schwuler und lesbischer Paare bei der Kostenübernahme künstlicher Befruchtung beraten oder der Familienausschuss? Eigentlich scheint die Mehrheit klar: Union und SPD wollen den Gesetzentwurf der Grünen in den Gesundheitsausschuss bringen, die Opposition in den Familienausschuss. Doch die theoretische Mehrheit hat in diesem Augenblick mit der realen Mehrheit im Plenarsaal aus mancher Perspektive wenig zu tun. Viele Abgeordnete sitzen in den Reihen von AfD, FDP, Grünen und Linken – aber nur wenige bei Union und SPD.
Gleichwohl stellt Roth fest, dass der Antrag der Koalition gegen die Stimmen von Linken, Grünen, FDP und AfD angenommen sei. So ist es üblich. Es ist ohnehin immer ein Kommen und Gehen, da verlässt man sich lieber auf die bekannten Mehrheitsverhältnisse. Doch hier scheint das Auseinanderklaffen von Annahme und Beleg doch zu eklatant zu sein. Die AfD bezweifelt, dass Roth die Entscheidung des Plenums richtig erfasst hat. Offenkun- dig hatte Roth auch nicht das sicherste Gefühl. Sie lässt gegen Protestrufe aus der Koalition die Abstimmung wiederholen. Für manche Zuschauer ist das Ergebnis wieder eindeutig: Linke, Grüne, FDP und AfD bringen mehr Stimmen zusammen als die große Koalition, die nach der Bundestagswahl schon sehr klein geworden ist und deren Präsenz im Plenum in diesem Augenblick eher mickrig erscheint.
Das Sitzungspräsidium diskutiert. „Verwirrend“sei das aus dieser Perspektive. Die Politikerreihen bei der Opposition gehen eindeutig weiter hinauf, die der Koalition mehr in die Breite. „Wir sind uns nicht einig“, lautet die diplomati- sche Umschreibung von Roth über die Wahrnehmung der aktuellen Mehrheitsverhältnisse. Und deshalb ordnet die Bundestagsvizepräsidentin einen sogenannten Hammelsprung an. Der ist benannt nach einem Gemälde über dem Eingang zum Plenarsaal des alten Reichstagsgebäudes und besagt ganz einfach, dass nun alle Abgeordneten den Raum verlassen und durch drei Türen wieder reinkommen. Durch eine für Ja, eine für Nein oder durch eine für Enthaltung. Damit kann zweifelsfrei die Zahl der Stimmen gezählt werden.
So weit die Theorie. Doch schon die immer dringender werdenden Appelle der Sitzungspräsidentin, nun bitte den Saal zu verlassen, zeigen, dass die praktische Ausführung zumeist anders verläuft. Während die Oppositionsabgeordneten zügig in die Lobby gehen, sind Abgeordnete von Union und SPD noch mit intensiven Gesprächen befasst. Die Aufforderungen von Roth scheinen sie nicht wahrzunehmen. Das Manöver ist klar: Spiel auf Zeit.
Im Hintergrund wird nun hektisch telefoniert. Die parlamentarischen Geschäftsführungen von Union und SPD versuchen, die Abstimmungsniederlage zu verhindern. Auch Roth bekommt einen weiteren Hinweis. Gerade tage doch parallel der Ältestenrat des Bundestages, und auch dessen Mitglieder würden gerne am Hammelsprung teilnehmen. Nun schellen die Abstimmungsklingeln auf den Fluren aller Bürogebäude des Bundestages. Überall lassen die Abgeordneten alles stehen und liegen. Konferenzen, Sitzungen, Gespräche werden unterbrochen. Und wo eben noch gähnende Leere vor dem Plenarsaal herrschte, wird es binnen Minuten immer enger. Um 14.07 Uhr hat Roth zum „Hammelsprung“aufgerufen, um 14.29 Uhr ist er endlich gelaufen: Die Koalition bringt 322 Politiker auf die Beine, die Opposition 251. Gerade noch mal gut gegangen für die klein gewordene große Koalition. Aber sie hat erneut erlebt, auf welch dünnem Eis sie arbeitet.