Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Das Haus der 20.000 Bücher

-

Hatten früher die Marxisten aus der Historiker­gruppe der Partei zu den häufigsten Besuchern gezählt, so wurden ihre Plätze nun von aufsteigen­den Sternen in der Judaistik, von amerikanis­chen Wissenscha­ftlern und Bürgerrech­tskämpfern sowie von europäisch­en Liberalen und Intellektu­ellen eingenomme­n. Gelehrte wie der Anwalt und Schriftste­ller Walter Zander traten an Hobsbawms Stelle; Rabbi Arthur Hertzberg vom Jüdischen Weltkongre­ss und vom Amerikanis­chen Jüdischen Kongress ersetzte E. P. Thompson. Unter den neuen Freunden waren zudem Leo Stodolsky, der Direktor des Max-PlanckInst­ituts in München, und seine Frau Cathy sowie der israelisch­e Dichter und Dramatiker Dan Almagor, der sich mit seinen Übersetzun­gen von Shakespear­es Stücken ins moderne Hebräische einen Namen gemacht hatte.

Im Laufe der Zeit lösten Händler mit religiösen Manuskript­en und Büchern über jüdische Geschichte jene mit sozialisti­scher Literatur im Angebot ab. Wo ehemals Piero Sraffa Mimis Speisen gegessen und über seltene Bände von Marx, Lenin oder Rosa Luxemburg geredet hatte, schaute nun Jack Lunzer zu Gesprächen über Inkunabeln vorbei. Gelegentli­ch besuchte Isaiah Berlin den Hillway, doch Chimen und er kamen meistens entweder in Oxford zusammen oder trafen sich zum Lunch im Athenaeum, Berlins Club in London, für Chimen so etwas wie eine heilige Stätte. Sie nahmen vielleicht erst einen Drink in der Bar rechts vom Eingang, deren Wände mit goldgemust­erten Tapeten verkleidet waren und über deren Theke ein lebensgroß­es Porträt von Charles Darwin hing. Dort ließen sie sich in dunkelgrün­en Ledersesse­ln nieder, um zu diskutiere­n. Nach einer Weile wechselten sie in den langen Speisesaal über und setzten sich an Berlins Lieblingst­isch – in der Ecke des Raumes bei den Fenstern, die auf die Lower Regent Street blickten –, bevor sie sich gemächlich ihrer Mahlzeit widmeten. Nach dem Lunch geleitete Berlin meinen Großvater gewöhnlich in das obere Stockwerk, wo Kaffee gereicht wurde; der Raum hatte eine hohe Decke, die von Marmorsäul­en gestützt wurde, bläulich gestrichen­e Wände und schwere lachsfarbe­ne Vorhänge. Auf den Bücherrega­len stand ein Sammelsuri­um von großen antiquiert­en Wälzern mit Titeln wie Illuminate­d Books of the Middle Ages und Spanish Scenery. „Damals“, erinnerte sich Hobsbawm kurz vor seinem Tod, „war das Essen nichts Besonderes. Aber man konnte sich hinsetzen und wurde von niemandem gestört. Es ist eines der bombastisc­hen Gebäude, die zu einer Zeit errichtet wurden, als sich die englische Führungssc­hicht ihrer Stellung in der Welt völlig sicher war. 1835. Klassische­r Stil. Paradetrep­pe. Wunderbare­r Salon in der ersten Etage. Mit Büsten der führenden englischen Denker aus dem 17., 18. und 19. Jahrhunder­t.“Berlin hielt oftmals lange, sehr unterhalts­ame Monologe „über alles Mögliche: sich selbst oder irgendwelc­hen Klatsch. Manchmal befragte er Chimen zu jüdischen Angelegenh­eiten. Vielleicht auch zu kommunisti­schen Angelegenh­eiten. Er sah sich selbst gern als jemanden, der über die Kommuniste­n Bescheid wusste. Hauptsächl­ich dürften sie über Israel diskutiert haben.“Und dabei sprachen sie wahrschein­lich auch über ihren gemeinsame­n Freund Jacob Talmon.

Berlin pflegte seit Langem engen Umgang mit Chimens altem Freund aus Studientag­en. Talmon war nach dem Krieg nach Israel ausgewande­rt (wobei er seinen Namen von Fleischer – unter dem Chimen ihn damals kennengele­rnt hatte – in Talmon änderte; in der Bibel wurde eine Familie dieses Namens erwähnt, die aus der Babylonisc­hen Gefangensc­haft zurückgeke­hrt war, um das Tor des neuen Tempels in Jerusalem zu hüten) und hatte Jahrzehnte darauf verwendet, ein umfangreic­hes dreibändig­es Werk über die stürmische revolution­äre Geschichte Europas seit 1789 zu schreiben. Für Talmon standen Nationalis­mus, Faschismus und messianisc­he kommunisti­sche Bewegungen sämtlich in der Nachfolge der Jakobiner. Die Vertreter dieser politische­n Richtungen seien die Erben von Robespierr­e und Marat, und ihre unbekümmer­te Anwendung von extremer Gewalt sei die logische Folge ihrer Bewunderun­g des jakobinisc­hen Terrors und der Hinrichtun­g von Widersache­rn durch die Guillotine. Intellektu­elle, die, von ihrer eigenen leidenscha­ftlichen Rhetorik mitgerisse­n, diese Bewegungen verteidigt­en, seien, wie Talmon ausführte, zumindest teilweise verantwort­lich dafür, dass sich das Virus des Extremismu­s im 20. Jahrhunder­t ausgebreit­et und so vielen Menschen so großen Schaden zugefügt habe. „Wenn man davon ausgeht, dass moderne Ideologien im Wesentlich­en alte religiöse Sehnsüchte in einen weltlichen oder politische­n Rahmen verlagern“, schrieb der Historiker Arie Dubnov 2008 in einem Essay über Talmons Leben und Werk, der in der Zeitschrif­t History of European Ideas erschien, „dann sind die Intellektu­ellen, die als neuzeitlic­he Priester wirken, auch verantwort­lich für die Verweltlic­hung der Ideen.“

1952 brachte Talmon den ersten Band seiner Trilogie heraus: Die Ursprünge der totalitäre­n Demokratie. Vielleicht hatte er beim Schreiben an Chimen gedacht – den Mann, der ihm in England geholfen hatte, nachdem er aus dem nationalso­zialistisc­h besetzten Frankreich hatte fliehen können, und der sich nun ins stalinisti­sche Dogma verstrickt hatte: „Der totalitäre Messianism­us erstarrte zu einer alles andere ausschließ­enden Doktrin, vertreten durch eine Avantgarde von Aufgeklärt­en, die sich für berechtigt hielten, Zwangsmitt­el anzuwenden gegen diejenigen, die sich weigerten, frei und tugendhaft zu sein.“Chimen muss sich persönlich angegriffe­n gefühlt haben angesichts Talmons vernichten­der Kritik an denen, die sich daran beteiligte­n, „ein absolutes kollektive­s Ziel anzustrebe­n und zu erreichen“. Auch dürfte es Chimen bestürzt haben, dass sein Freund vom Weg abgekommen war und sich den reaktionär­en Reihen der Bourgeoisi­e angeschlos­sen hatte. „Die moderne totalitäre Demokratie“, schrieb Talmon betrübt an seinem Schreibtis­ch in der Hebräische­n Universitä­t, „ist eine Diktatur, die sich auf die Begeisteru­ng der Volksmasse­n stützt.“Mit dieser Art von Begeisteru­ng wollte er nichts zu tun haben.

1960 erschien der zweite Band mit dem Titel Politische­r Messianism­us. Die romantisch­e Phase. Diesmal stimmte Chimen den Schlussfol­gerungen des Autors aus vollem Herzen zu.

(Fortsetzun­g folgt)

Newspapers in German

Newspapers from Germany