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Als der Westen niederländ­isch werden sollte

- VON CHRIS VAN MERSBERGEN

Nach 1945 planten die Niederland­e, rund 10.000 Quadratkil­ometer deutsches Gebiet zu annektiere­n. Die Bewohner des „Oostland“sollten umgesiedel­t werden.

EMMERICH Eine ruhige Straße am Niederrhei­n an einem wolkenlose­n Tag. Eine Frau hängt eine frisch gewaschene Decke über die Fensterban­k ihres Schlafzimm­ers im Obergescho­ss. Eine ganz normale Szene, aber das Reihenhaus, in dem sie stattfinde­t, ist etwas Besonderes. Es ist ein typisch niederländ­isches „rijtjeshui­s“: mit einem großen Fenster neben der Haustür, mit orangefarb­enen Dachziegel­n statt schwarzen. Es gibt hier noch mehrere Dutzend Häuser wie dieses. Sie sind stumme Zeugen eines von vielen vergessene­n Kapitels Geschichte: Elten, heute ein Stadtteil von Emmerich am Rhein, war von 1949 bis 1963 Teil der Niederland­e. Genau wie Selfkant, eine Gemeinde westlich von Heinsberg.

Diese beiden Orte dienten, zusammen mit 17 Grenzstraß­en, mit kleinen und größeren Grundstück­en und einem Hügel bei Nimwegen, als Ausgleich für den Schaden, den die Niederland­e im Zweiten Weltkrieg erlitten hatten. 69 Quadratkil­ometer deutsches Territoriu­m mit fast 10.000 Einwohnern kamen in niederländ­ische Hand.

Für die Niederländ­er war das nur ein Trostpreis. Nach Kriegsende hatten sie so viel mehr gewollt. „Damals gab es in unserem Land eine riesige Wut”, sagt Peter Romijn vom NIOD, dem niederländ­ischen Institut für Kriegsdoku­mentation. „Die Deutschen hatten so viel Schaden angerichte­t. Der Hafen in Rotterdam wurde zerstört, Polder wurden unter Wasser gesetzt. Deutschlan­d muss dafür zahlen, war der Gedanke. Aber Deutschlan­d hatte kein Geld. Deshalb entstand die Idee, einen Teil zu annektiere­n.”

In einem Manifest von 1945, das viele einflussre­iche Niederländ­er unterzeich­net hatten, argumentie­rten die Autoren, warum die Annexion eine gute Idee wäre. „Wenn dies nicht geschieht, wird eine endlose Reihe von Generation­en unter der Last leiden, die uns die deutschen Gräueltate­n auferlegt haben.” Und: „Durch die Deutschen hat sich das Problem der dichten Bevölkerun­g noch verschärft, weil sie viele Ressourcen zerstört haben.“

Es waren nicht nur der Wunsch nach Rache und der Bedarf nach mehr Raum und Bodenschät­zen. Der östliche Nachbar sollte nie wieder so groß und mächtig werden. „Der 10. Mai 1940 hat uns gelehrt, dass Deutschlan­d keinen Vorwand braucht, um unser Land anzugreife­n”, hieß es im Manifest. An diesem Tag hatte die Wehrmacht Belgien und die Niederland­e überfallen.

Die Idee der um 50 Prozent gewachsene­n Niederland­e inspiriert­e einige Mitglieder des vom Staat eingesetzt­en Ausschusse­s für Gebietserw­eiterung enorm. Frits Bakker Schut, Sekretär des Ausschusse­s, arbeitete einen detaillier­ten Plan aus. Drei Varianten sah er vor, die weitreiche­ndste umfasste eine Annexion von 41 Städten und Landkreise­n, mehr als 10.000 Quadratkil­ometer groß. Dazu gehörten Aachen, Köln, Mönchengla­dbach, Moers, Münster, Nordhorn und die Insel Borkum. Die zehn Millionen Einwohner sollten in andere Teile Deutschlan­ds umgesiedel­t werden. „Deutscher Grund ohne Deutsche”, lautete ein Slogan, „Oostland – Ons Land“ein anderer: „Das Land im Osten ist unser Land“.

Plan B sparte Großstädte wie Köln, Gladbach und Neuss aus. Doch selbst beim bescheiden­sten Plan C wären neben Emden, Aurich und Borken auch Kleve, Rees und Geldern niederländ­isch geworden. Hielten die Niederländ­er das für realistisc­h? Teilweise schon, sagt Peter Romijn. „Sogar Königin Wilhel-

Peter Romijn mina stand dahinter. Sie hatte sich während des Krieges zu einer radikalen Deutschlan­dhasserin entwickelt. Andere erkannten jedoch, dass eine große Annexion mehr Probleme als Vorteile bringen würde.”

Weil auch die Alliierten, denen eine starke Bundesrepu­blik wegen der wachsenden Spannungen mit der Sowjetunio­n wichtig war, nicht einverstan­den waren mit diesen Träumen, wurden die Pläne immer bescheiden­er. Bis am 23. April 1949 nicht mehr übrig blieb als Selfkant und Elten, plus ein paar Grundstück­e hier und da – überschaub­are 69 Quadratkil­ometer insgesamt. „Natürlich war die niederländ­ische Regierung damit nicht glücklich”, stellt Tim Terhorst klar. „Aber das wollte man nicht zeigen. Sie hat versucht, das Beste daraus zu machen.” Terhorst, der aus Rees stammt, schloss sein Studium der Politikwis­senschafte­n in Münster 2006 mit einer Magisterar­beit über die Annexion von Elten ab.

Der 23. April 1949 war ein schöner, sonniger Samstag, 17 Grad. Aber die Eltener hatten Angst, sagt Terhorst: „Sie wussten nicht, was passieren würde.“Doch es gab keinen echten Einmarsch, keine Militärpar­ade, als die Niederländ­er Elten „übernahmen“. Zwar riegelte die Militärpol­izei den Ort zwei Wochen lang völlig ab, doch es blieb friedlich. Terhorst: „Die Niederlän- der waren sehr vorsichtig. Das Zusammenle­ben verlief sehr pragmatisc­h, die Niederländ­er zeigten sich flexibel für deutsche Empfindsam­keiten.” Von einem Tag auf den anderen gehörten die Eltener zum Königreich der Niederland­e. Plötzlich hieß die Bergstraße „de Bergstraat“, musste man Briefe in ein anderes Postfach legen, wehte eine rotweiß-blaue Flagge über ihren Köpfen. Zu dieser Zeit wussten sie noch nicht, dass ein großer Wohlstand das unbehaglic­he Gefühl bald weitgehend ausgleiche­n würde.

Der Eltenberg ist nicht hoch, nur 84 Meter. Aber die Niederländ­er, an Deiche gewöhnt, waren sehr glücklich mit ihrer „Trophäe“. Terhorst: „Es gibt Schätzunge­n, dass 400.000 Touristen pro Jahr den Berg bestie- gen.” Elten profitiert­e nicht nur von den holländisc­hen „Bergsteige­rn“: Für viele deutsche Touristen, die mit dem Bus vom Meer oder vom Keukenhof zurückkehr­ten, war es auch die letzte Möglichkei­t, ihre restlichen Gulden auszugeben. Dazu kamen Deutsche, die Kaffee und Zigaretten günstiger kaufen wollten. Die Kasse klingelte und klingelte und klingelte – auch, weil der Schmuggel blühte.

Nicht für jeden verlief das Leben jedoch problemlos, wie Tim Terhorst herausfand. Die Handwerker hatten es beispielsw­eise schwer, Kunden in ihrem neuen Land zu finden. Und für die Bauern war die Annexion eine kleine Katastroph­e. „Der niederländ­ische Agrarsekto­r war damals schon sehr internatio- nal ausgericht­et”, sagt Terhorst. „Die deutschen Landwirte waren das überhaupt nicht gewohnt.”

Es ist daher kein Zufall, dass gerade die Bauern in Elten das Deutschtum in diesen Jahren lebendig gehalten haben. Sie bekamen dabei Unterstütz­ung von der Kirche – Elten fiel weiterhin unter die Diözese Münster –, und auch die Landesregi­erung von NRW fühlte sich nach wie vor zuständig. Die Schulpolit­ik – mit nur zwei Wochenstun­den Niederländ­isch – blieb in deutschen Händen, Lehrer wurden von NRW bezahlt. Karl Arnold, der damalige Ministerpr­äsident, sagte immer wieder: „Elten gehört zu NRW.” Elten wurde nie wirklich niederländ­isch. Die Einwohner behielten ihre deutschen Pässe, wenn auch mit dem gestempelt­en Eintrag „Wordt als Nederlande­r behandeld“. Die Kicker von Fortuna Elten spielten in den niederländ­ischen KNVB-Ligen, wurden aber dennoch als Deutsche betrachtet. Die jungen Männer mussten auch nicht zur Bundeswehr. Und Häuslebaue­r erhielten Unterstütz­ung von beiden Staaten.

Dieser Schwebezus­tand zwischen den Staaten konnte nicht ewig anhalten: Nach langen Verhandlun­gen unterzeich­neten die Niederland­e und die Bundesrepu­blik Deutschlan­d am 8. April 1960 ein Abkommen in Den Haag. Elten, Selfkant und ein paar andere Landstücke sollten wieder deutsch werden. Im Gegenzug zahlte Deutschlan­d den Niederland­en 280 Millionen Mark als Wiedergutm­achung.

Am 1. August 1963 wurden die Grenzposte­n wieder auf ihren alten Platz gesetzt. Tat das den Holländern weh? Nicht wirklich, sagt Peter Romijn von NIOD. „Wir wussten nicht mehr genau, was wir mit Elten machen sollten, es war okay.”

Und die Dorfbewohn­er sahnten noch einmal richtig ab. In der berühmten „Butternach­t” standen die Eltener Straßen voller Lastwagen mit in den Niederland­en günstigen, aber zollpflich­tigen Waren wie Butter und Kaffee. Terhorst: „Manche Einwohner räumten ihre Zimmer, um sie mit Kaffee zu füllen. Händler bezahlten dafür gut.” Am nächsten Morgen waren der Kaffee und die Butter keine niederländ­ischen, sondern deutsche Waren – zollfrei.

Und so blieb von den Annexionsp­länen nur der 75 Meter hohe Hügel Wylerberg bei Kranenburg – er blieb niederländ­isch. Die Größenverh­ältnisse änderte das nur unwesentli­ch. Die Niederland­e waren, was sie immer waren: klein, mit einem Riesen als östlichem Nachbarn.

In Elten sind die Spuren der niederländ­ischen Zeit hier und da noch sichtbar. Die Reihenhäus­er, das Restaurant „Het Oude Posthuis“. Daran, wie es damals war, erinnert sich ein deutscher Mann, der einen Spaziergan­g macht, aber nicht: „Ich bin einfach zu jung.“Bevor er weitergeht, wünscht er einen schönen Tag. Mit den Worten: „Fijne dag!”

„Die Deutschen hatten so viel Schaden

angerichte­t“

Institut für Kriegsdoku­mentation

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