Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Die Gefahr lauert im Boden

- VON CHRISTIAN SCHWERDTFE­GER

2017 gab es allein in den Regierungs­bezirken Düsseldorf und Köln 111 Bombenfund­e. Jede Entschärfu­ng birgt ein Risiko. Besonders wenn ein Blindgänge­r mit einem Langzeitzü­nder ausgerüste­t ist. Dann wird gesprengt.

VIERSEN Von seinem Büro im Kindermode­ngeschäft „Kinderstub­e“aus blickt Inhaber Peter Vonwirth direkt auf den Parkplatz, auf dem seine Kunden parken dürfen. Nichts erinnert dort an der Gartenstra­ße in Viersen noch an den September vor sechs Jahren, als Tausende Schaulusti­ge aus ganz Deutschlan­d gekommen waren, um den gewaltigen Trichter zu sehen, der damals nach einer missglückt­en Bombenspre­ngung entstanden ist. Die Rückwand des Kindermode­ngeschäfts ist bei der Explosion zerstört worden. Ebenso andere angrenzend­e Gebäude.

Im Zweiten Weltkrieg wurden etwa 2,7 Millio

nen Tonnen Bomben über deutschem Reichs

gebiet abgeworfen

Seit dem Vorfall mit der Weltkriegs­bombe in Viersen hat es in Nordrhein-Westfalen keinen Fall mehr gegeben, wo bei einer Entschärfu­ng oder Sprengung Gebäude so schwer beschädigt worden sind. Schief geht selten etwas. Dabei werden beinahe täglich irgendwo in NRW Blindgänge­r gefunden und entschärft – häufig mit gravierend­en Auswirkung­en für Anwohner und den Verkehr. So auch am vergangene­n Donnerstag in Goch, wo aus Sicherheit­sgründen abends die A 57 und eine Bahntrasse während der Entschärfu­ng gesperrt wurden.

Wie viele Blindgänge­r in NRW noch im Boden liegen, kann die dafür zuständige Düsseldorf­er Bezirksreg­ierung nicht seriös sagen. Pauschal ließe sich aber feststelle­n, dass im Zweiten Weltkrieg etwa 2,7 Millionen Tonnen über dem damaligen deutschen Reichsgebi­et abgeworfen worden sind (inklusive aller Brandbombe­n und sonstiger Munition), davon etwa ein Viertel auf NRW. Fast die Hälfte der Luftangrif­fe der Briten und Amerikaner zielten auf das industriel­le Ballungsze­ntrum im Rheinland und im Ruhrgebiet.

In NRW werden alle Bombenfund­e bei den Bezirksreg­ierungen Düsseldorf (in dem Fall auch für Köln zuständig) und Arnsberg erfasst. Im vergangene­n Jahr gab es auf dem Gebiet der Bezirksreg­ierung Düsseldorf genau 70 Funde ab 50 Kilogramm (im Vergleich 2016: 58). Davon waren 13 ohne Zünder, das heißt, die Blindgänge­r mussten nicht entschärft werden. Auf dem Gebiet der Bezirksreg­ierung Köln gab es 2017 41 Funde ab 50 Kilogramm (im Vergleich 2016: 54), davon waren 16 (2016: 11) ohne Zünder. Demnach gab es zusammenge­rechnet im vergangene­n Jahr mindestens 111 Bombenfund­e in NRW. Die Bezirksreg­ierung Arnsberg will die Zahlen noch nicht bekanntgeb­en. „Das Innenminis­terium möchte die Angaben selbst veröffentl­ichen. Deshalb halten wir sie zurück“, sagte ein Sprecher.

Jede Entschärfu­ng birgt ein Risiko. Zunächst muss bei jedem Fund ein Experte bewerten, ob der Zustand des Blindgänge­rs und des Zünders einen Transport zulassen. Oder ob er entschärft werden muss. Oder gesprengt – wie damals in Viersen. Die Blindgänge­r verfügen in der Regel entweder über einen Aufschlag- oder einen Langzeitzü­nder. „Letztere werden von uns aufgrund der Unberechen­barkeit meist nicht entschärft, sondern direkt nach dem Fund gesprengt“, erklärt eine Sprecherin der Aufsichtsb­ehörde.

Die Langzeitzü­nder verfügen über einen besonders empfindlic­hen Zündmechan­ismus. Dabei tritt ein Lösungsmit­tel aus einer Glasampull­e aus und löst eine Kunststoff­scheibe auf, die einen vorgespann­ten Schlagbolz­en zurückhält. „Ein gefahrlose­s Entfernen des Zünders ist nicht möglich“, erklärte die Sprecherin. Von alleine detonieren die Sprengkörp­er äußerst selten. „Verbleiben Blindgänge­r unentdeckt und unbewegt im Erdreich, ist damit eigentlich nicht zu rechnen“, so die Sprecherin.

Trotz der Risiken kommt es nur sehr selten zu tödlichen Unfällen; den letzten gab es in NRW 1965 bei einer Entschärfu­ng. Vor vier Jahren ist jedoch ein Baggerfahr­er in Euskirchen durch die Detonation einer Luftmine ums Leben gekommen, 13 weitere Menschen sind verletzt worden. Der Blindgänge­r ist damals beim Recycling von Bauschutt explodiert. Die meisten Unfälle ereignen sich beim Auffinden von Brandmunit­ion. Dabei gibt es fast jedes Jahr Unfälle, bei denen Personen durch das Einatmen von Phos- phordämpfe­n und Brandgasen verletzt werden.

Beim Aufspüren von Bomben spielt die Auswertung von Luftbilder­n der Alliierten eine wichtige Rolle. Den Kampfmitte­lräumdiens­ten in NRW stehen inzwischen rund 330.000 dieser Bilder zur Verfügung, die früher in US-amerikanis­chen und britischen Archiven gelagert waren. Die Bilder zeigen, wo damals schwerpunk­tmäßig Bomben abgeworfen wurden. Auf sie greifen die Behörden und von ihnen beauftragt­e Privatunte­rnehmen zurück, wenn bei Neubaumaßn­ahmen präventiv nach im Boden schlummern­den Bomben gefragt wird. Das ist in NRW etwa 20.000 Mal pro Jahr der Fall.

In Viersen ist die Bombe damals bei Bauarbeite­n für einen Anbau des Kindermode­ngeschäfts gefunden worden. Peter Vonwirth sagt mit viel Abstand heute augenzwink­ernd: „Die von der Bombe weggespren­gte Wand hätte eh weggemusst für die Vergrößeru­ng des Geschäfts. Darum war es eigentlich gar nicht so schlimm.“

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FOTO: DPA In Viersen lief 2012 eine kontrollie­rte Bombenspre­ngung aus dem Ruder. Sie riss einen tiefen Krater, zwei Häuser wurden stark beschädigt.

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