Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Das Haus der 20.000 Bücher
Für Chimen war es, bemerkte sein früherer Student Steven Zipperstein, „Segen und Fluch zugleich, dass er die sagenhafte Fähigkeit geerbt hatte, gewissermaßen im Geist ein Foto von jeder Seite zu machen, während er sie las. Das konnte Chimen tatsächlich.“Zipperstein war der Meinung, dass das Wortgewirr in Chimens Kopf eine fast lähmende Wirkung gehabt habe. Wie Funes der Gedächtniskünstler, die Hauptfigur in einer Kurzgeschichte von Jorge Luis Borges, „erinnerte er sich an alles. Chimen vergaß nichts. Und das war der Grund für seine Schreibblockade. Er war ein Meister ohne Meisterwerk.“Hobsbawm drückte es nüchterner aus: „Er war ungemein gelehrt, aber es gelang ihm nicht, seine Bildung in eine Form zu bringen.“
Je älter Chimen und Miriam wurden, desto wärmer wurde es im Esszimmer. Mimis angegriffene Gesundheit veranlasste sie, die Zentralheizung hochzudrehen, manchmal auf über 27 Grad, und alle paar Stunden zog sie sich auf eine Couch an der Wand zur Küche zurück, um ein paar Minuten auszuspannen. Bisweilen musste sie sich von Stürzen erholen, die sie immer häufiger heimzusuchen schienen und nach denen ihre Beine geschwollen und voller schrecklicher blauer Flecken waren, dann wieder fühlte sie sich einfach erschöpft von ihren Pflichten als Gastgeberin. Während sie dort lag, setzte sich das Gespräch um sie herum fort. Das Zimmer war so vollgestopft mit Stühlen, Büchern, Menschen, einem großen Fernseher und dem kaputten alten Klavier, dass die Couch kaum noch wahrgenommen wurde. – Es gab in diesem Zimmer fast keinen Wand- bereich ohne Bücher. Diese wenigen Stellen wurden von Kunstwerken und Fotos geschmückt. Betrat man das Esszimmer von der Diele her und blickte auf den Garten, bemerkte man zwei große Bilder an der rechten Wand. Das erste war ein Gemälde von Sandra Pepys auf einer langgezogenen, rechteckigen Leinwand, das ein Panorama der Altstadt von Jerusalem zeigte. Einen ähnlichen Ausblick musste Chimen als Student an der Hebräischen Universität gehabt haben, wenn er den Skopusberg hinunterschaute. Das zweite stammte von Mordecai Ardon, einem bekannten Künstler und Vater von Chimens und Mimis gutem Freund Mike. Die gerahmte Tuschmalerei unter Glas trug den Titel Schöpfung der Welt und zeigte die Buchstaben des hebräischen Alphabets, die sich von einem Zentrum aus in Spiralen wegzudrehen schienen, fort vom Betrachter. Dadurch entstand der Eindruck, dass Energie mit Warp-Geschwindigkeit vom Ausgangspunkt davonraste. Daneben hing eine gerahmte historische Karte des östlichen Mittelmeerraumes. In der linken oberen Ecke saß ein Löwe auf einer winzigen Insel; links von ihm stand ein Baum, um dessen Stamm sich eine Schlange wand. Es handelte sich, wie eine Anmerkung unter dem Löwen erklärte, um „Eine Karte, welche die Lage des Paradieses und des von den Urvätern bewohnten Landes zeigt“. Unter den Gemälden befand sich ein schweres Holzpult mit einem Rolldeckel und Dutzenden von Schubladen: Mimis völlig überladener Schreibtisch. Hier saß sie, wenn sie Schecks ausstellte; gelegentlich schrieb sie hier auch einen Brief. Außerdem war es eine Art Depot für Bürobedarf: für Rollen längst ungültiger grüner Rabattmarken, für fünfzig Jahre alte Quittungen und Briefbögen von Shapiro, Valentine & Co., das 1969 schloss, nachdem Chimens Hochschulkarriere Fahrt aufgenommen hatte. Darunter mischte sich Privatkorrespondenz. Es war eine weitere Hamsterecke im Haus eines Hamsterers.
In Chimens letzten Lebensjahren hing ein riesiges Originalplakat der Pariser Kommune in SchwarzWeiß – herausgegeben in den berauschenden Tagen des Aufstands, bevor die Armee Paris zurückeroberte – in einem imposanten schwarzen Rahmen mit roten Rändern an der Wand, an der früher Mimis Couch gestanden hatte. Es gab den Text eines der Kommune-Erlasse wieder. Mein Bruder Kolya hatte es Chimen zum neunzigsten Geburtstag geschenkt. Dies war das einzige Relikt drastischer politischer Symbolik in einem Zimmer, aus dem solche Hinweise auf Chimens einstige Leidenschaften verbannt worden waren. Er ließ sich gewöhnlich in einem Liegesessel nieder – auf dem Tisch vor ihm standen ein großer, schwerer altmodischer Fernsehapparat und ein Videorekorder –, und er drehte die Lautstärke hoch, wenn er sich die Nachrichten anschauen wollte. Im günstigsten Fall bekam er alles mit, was der Nachrichtensprecher zu berichten hatte. Aber wenn sein Hörgerät nicht funktionierte oder wenn seine Ohren besonders verstopft waren, blickte er unbehaglich um sich und sein Blick schweifte zu dem Kommunarden-Plakat, wie um visuellen Trost für die Tatsache zu suchen, dass er nicht hören konnte, was um ihn herum gesagt wurde. Er saß ermattet da, und seine Augen huschten zwischen dem Plakat und dem lauten, doch für ihn unhörbaren Fernseher hin und her. Häufig döste er im Sessel ein. Er lag dann ganz still da, und nur an seinem ruhigen Atmen ließ sich erkennen, dass er noch lebte.
Vielleicht träumte er von Gespenstern.
Das alte Klavier, auf dem meine Schwester Tanya und ich auf Bitten von Mimi und ihren Freundinnen früher gespielt hatten, hatte seine Funktion als Musikinstrument im Laufe der Jahre eingebüßt und war stattdessen zu einem Schrein für Fotos von mittlerweile verstorbenen Freunden und Verwandten geworden. Darunter fanden sich aber auch Bilder der Lebenden: der Kinder, Enkel und schließlich der Urenkel, nämlich meiner eigenen Kinder Sofia und Leo sowie Tanyas Tochter Izzy. Neben dem Klavier hingen in den letzten Jahren des Salons ein Aquarell meiner Cousine Maia und zwei Bleistiftzeichnungen von Tanya: eine zeigte Chimen, die andere Mimi. Beide schienen kaum merklich zu lächeln, während sie auf das vollgestopfte Zimmer blickten. Links vom Klavier, neben einem Regal mit einer Sammlung jüdischer Enzyklopädien, prangte ein großformatiges, mattes Schwarz-WeißFoto von Yehezkel, Chimen, Jack und mir – vier Generationen von Abramsky-Männern. Die Aufnahme war 1973 in Yehezkels kleiner Wohnung in Jerusalem gemacht worden. Im Hintergrund ist ein Fenster zu sehen, und Sonnenstrahlen dringen durch die weißen Lamellen der Jalousie. Ich war ein Jahr alt, ein Kleinkind mit blonden Locken, und saß auf dem Schoß meines Vaters. Er hatte seine Haare, die sich bereits lichteten, lang wachsen lassen; sein Bart war buschig, aber nicht auf religiöse Art, sondern im Stil der sechziger Jahre. (Fortsetzung folgt)