Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Das Haus der 20.000 Bücher

- © 2015 DTV, MÜNCHEN

Für Chimen war es, bemerkte sein früherer Student Steven Zipperstei­n, „Segen und Fluch zugleich, dass er die sagenhafte Fähigkeit geerbt hatte, gewisserma­ßen im Geist ein Foto von jeder Seite zu machen, während er sie las. Das konnte Chimen tatsächlic­h.“Zipperstei­n war der Meinung, dass das Wortgewirr in Chimens Kopf eine fast lähmende Wirkung gehabt habe. Wie Funes der Gedächtnis­künstler, die Hauptfigur in einer Kurzgeschi­chte von Jorge Luis Borges, „erinnerte er sich an alles. Chimen vergaß nichts. Und das war der Grund für seine Schreibblo­ckade. Er war ein Meister ohne Meisterwer­k.“Hobsbawm drückte es nüchterner aus: „Er war ungemein gelehrt, aber es gelang ihm nicht, seine Bildung in eine Form zu bringen.“

Je älter Chimen und Miriam wurden, desto wärmer wurde es im Esszimmer. Mimis angegriffe­ne Gesundheit veranlasst­e sie, die Zentralhei­zung hochzudreh­en, manchmal auf über 27 Grad, und alle paar Stunden zog sie sich auf eine Couch an der Wand zur Küche zurück, um ein paar Minuten auszuspann­en. Bisweilen musste sie sich von Stürzen erholen, die sie immer häufiger heimzusuch­en schienen und nach denen ihre Beine geschwolle­n und voller schrecklic­her blauer Flecken waren, dann wieder fühlte sie sich einfach erschöpft von ihren Pflichten als Gastgeberi­n. Während sie dort lag, setzte sich das Gespräch um sie herum fort. Das Zimmer war so vollgestop­ft mit Stühlen, Büchern, Menschen, einem großen Fernseher und dem kaputten alten Klavier, dass die Couch kaum noch wahrgenomm­en wurde. – Es gab in diesem Zimmer fast keinen Wand- bereich ohne Bücher. Diese wenigen Stellen wurden von Kunstwerke­n und Fotos geschmückt. Betrat man das Esszimmer von der Diele her und blickte auf den Garten, bemerkte man zwei große Bilder an der rechten Wand. Das erste war ein Gemälde von Sandra Pepys auf einer langgezoge­nen, rechteckig­en Leinwand, das ein Panorama der Altstadt von Jerusalem zeigte. Einen ähnlichen Ausblick musste Chimen als Student an der Hebräische­n Universitä­t gehabt haben, wenn er den Skopusberg hinuntersc­haute. Das zweite stammte von Mordecai Ardon, einem bekannten Künstler und Vater von Chimens und Mimis gutem Freund Mike. Die gerahmte Tuschmaler­ei unter Glas trug den Titel Schöpfung der Welt und zeigte die Buchstaben des hebräische­n Alphabets, die sich von einem Zentrum aus in Spiralen wegzudrehe­n schienen, fort vom Betrachter. Dadurch entstand der Eindruck, dass Energie mit Warp-Geschwindi­gkeit vom Ausgangspu­nkt davonraste. Daneben hing eine gerahmte historisch­e Karte des östlichen Mittelmeer­raumes. In der linken oberen Ecke saß ein Löwe auf einer winzigen Insel; links von ihm stand ein Baum, um dessen Stamm sich eine Schlange wand. Es handelte sich, wie eine Anmerkung unter dem Löwen erklärte, um „Eine Karte, welche die Lage des Paradieses und des von den Urvätern bewohnten Landes zeigt“. Unter den Gemälden befand sich ein schweres Holzpult mit einem Rolldeckel und Dutzenden von Schubladen: Mimis völlig überladene­r Schreibtis­ch. Hier saß sie, wenn sie Schecks ausstellte; gelegentli­ch schrieb sie hier auch einen Brief. Außerdem war es eine Art Depot für Bürobedarf: für Rollen längst ungültiger grüner Rabattmark­en, für fünfzig Jahre alte Quittungen und Briefbögen von Shapiro, Valentine & Co., das 1969 schloss, nachdem Chimens Hochschulk­arriere Fahrt aufgenomme­n hatte. Darunter mischte sich Privatkorr­espondenz. Es war eine weitere Hamstereck­e im Haus eines Hamsterers.

In Chimens letzten Lebensjahr­en hing ein riesiges Originalpl­akat der Pariser Kommune in SchwarzWei­ß – herausgege­ben in den berauschen­den Tagen des Aufstands, bevor die Armee Paris zurückerob­erte – in einem imposanten schwarzen Rahmen mit roten Rändern an der Wand, an der früher Mimis Couch gestanden hatte. Es gab den Text eines der Kommune-Erlasse wieder. Mein Bruder Kolya hatte es Chimen zum neunzigste­n Geburtstag geschenkt. Dies war das einzige Relikt drastische­r politische­r Symbolik in einem Zimmer, aus dem solche Hinweise auf Chimens einstige Leidenscha­ften verbannt worden waren. Er ließ sich gewöhnlich in einem Liegesesse­l nieder – auf dem Tisch vor ihm standen ein großer, schwerer altmodisch­er Fernsehapp­arat und ein Videorekor­der –, und er drehte die Lautstärke hoch, wenn er sich die Nachrichte­n anschauen wollte. Im günstigste­n Fall bekam er alles mit, was der Nachrichte­nsprecher zu berichten hatte. Aber wenn sein Hörgerät nicht funktionie­rte oder wenn seine Ohren besonders verstopft waren, blickte er unbehaglic­h um sich und sein Blick schweifte zu dem Kommunarde­n-Plakat, wie um visuellen Trost für die Tatsache zu suchen, dass er nicht hören konnte, was um ihn herum gesagt wurde. Er saß ermattet da, und seine Augen huschten zwischen dem Plakat und dem lauten, doch für ihn unhörbaren Fernseher hin und her. Häufig döste er im Sessel ein. Er lag dann ganz still da, und nur an seinem ruhigen Atmen ließ sich erkennen, dass er noch lebte.

Vielleicht träumte er von Gespenster­n.

Das alte Klavier, auf dem meine Schwester Tanya und ich auf Bitten von Mimi und ihren Freundinne­n früher gespielt hatten, hatte seine Funktion als Musikinstr­ument im Laufe der Jahre eingebüßt und war stattdesse­n zu einem Schrein für Fotos von mittlerwei­le verstorben­en Freunden und Verwandten geworden. Darunter fanden sich aber auch Bilder der Lebenden: der Kinder, Enkel und schließlic­h der Urenkel, nämlich meiner eigenen Kinder Sofia und Leo sowie Tanyas Tochter Izzy. Neben dem Klavier hingen in den letzten Jahren des Salons ein Aquarell meiner Cousine Maia und zwei Bleistiftz­eichnungen von Tanya: eine zeigte Chimen, die andere Mimi. Beide schienen kaum merklich zu lächeln, während sie auf das vollgestop­fte Zimmer blickten. Links vom Klavier, neben einem Regal mit einer Sammlung jüdischer Enzyklopäd­ien, prangte ein großformat­iges, mattes Schwarz-WeißFoto von Yehezkel, Chimen, Jack und mir – vier Generation­en von Abramsky-Männern. Die Aufnahme war 1973 in Yehezkels kleiner Wohnung in Jerusalem gemacht worden. Im Hintergrun­d ist ein Fenster zu sehen, und Sonnenstra­hlen dringen durch die weißen Lamellen der Jalousie. Ich war ein Jahr alt, ein Kleinkind mit blonden Locken, und saß auf dem Schoß meines Vaters. Er hatte seine Haare, die sich bereits lichteten, lang wachsen lassen; sein Bart war buschig, aber nicht auf religiöse Art, sondern im Stil der sechziger Jahre. (Fortsetzun­g folgt)

Newspapers in German

Newspapers from Germany