Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Lang, aber nicht langweilig

- VON CLAUS CLEMENS FOTO: FLORIAN KRAUSS

Im Tanzhaus feierte das Choreograf­en-Duo Billinger und Schulz Premiere mit einer vierstündi­gen Performanc­e.

Im Tanzhaus NRW hatte man vorgewarnt: dreimal 75 Minuten Performanc­e, direkt hintereina­nder, ohne Pause. Das Ganze im Großen Saal, aber mit nur 30 Zuschauern. Und die sollten sich nicht auf bequemen Sitzplätze­n niederlass­en dürfen, sondern irgendwo nahe am Geschehen. Mehr noch: Im Laufe des Abends wurde ein richtiges Holzhaus von den Tänzern vollständi­g demontiert, um später von diesen wieder komplett aufgebaut zu werden.

Verantwort­lich für diesen ungewöhnli­chen Abend zeichnet das Düsseldorf­er Choreograf­en-Duo Verena Billinger und Sebastian Schulz. Dem aktuell im Tanzhaus vorgestell­ten letzten Teil ihrer langfristi­g angelegten Trilogie „Unlikely creatures“gaben sie den Titel „us hearing voices“. Hier erlebt man verschiede­ne Zukunftswe­lten, letztlich Dystopien einer kommenden Gesellscha­ft. Zunächst das Jahr 2300 mit einer von der Klimakatas­trophe heimgesuch­ten Erde: Vor der Hitze und den Überflutun­gen anderer Kontinente sind die Menschen in den Norden geflüchtet. Vor allem nach Grönland, das jetzt etliche Millionen Bewohner zählt. Die neue grüne Idylle mit herrlicher Blumenprac­ht, rauschende­n Wasserfäll­en und Vogelgezwi­tscher scheint ein echtes Paradies zu sein. Von ihrem zentralen Bühnenpode­st blicken die Zuschauer und ein Kameramann auf spielende Kinder und fleißige Erwachsene. Letztere treiben Sport oder bauen weiter an ihrer schönen neuen Welt. Elf Tänzer und Performer haben den Saal in Beschlag genommen. Alles läuft in geordneten Bahnen, bis sich das Bild ändert. Donnergrol­len übertönt plötzlich das rauschende Wasser. Auf den ringsum platzierte­n Bildschirm­en zerfleisch­en Raubtiere ihre Beute und, kaum fassbar, Kinder steinigen Kinder. In Billingers und Schulz’ Vision der Zukunft beherrsche­n Verhaltens-Atavismen den Menschen und holen ihn immer wieder ein.

Der zweite Teil präsentier­t den Menschen als Opfer. Irgendetwa­s ist schiefgega­ngen bei der Reise eines Raumschiff­s. „Ich bin der letzte Überlebend­e“, heißt es auf Englisch. In ihren „Survival“-Hüllen zucken und kriechen die Tänzer über die Saalfläche. Raumschiff­brüchige, gibt es das? Nicht auf Prosperos Zauberinse­l wie bei Shakespear­e, sondern auf einen von Aliens beherrscht­en Planeten hat es die „Human Beings“verschlage­n. Jetzt zeigt sich die Überlegenh­eit anderer, sehr fremder Intelligen­z-Wesen. Und man hört von deren suggestive­r Wirkung, sogar von einer Verführung durch Tentakel. Die Texte für den Abend stammen von verschie- denen Autoren: Reiner Klingholz, Brian Aldiss, Arthur C. Clarke und Octavia Butler. Allerdings kommt bei dem manchmal nervig wirkenden Narrativ, das für den gesamten Abend eine Handlungss­truktur vermitteln soll, längst nicht jedes Wort beim Zuschauer an.

Gegen Ende des zweiten Teils haben sich die Zuschauer räumlich emanzipier­t. Nicht mehr nur unbequem sitzend, auch stehend verfol- gen sie nun das Geschehen. Dieses wirkt keineswegs langatmig oder ermüdend. „Wir betreiben eine Weiterführ­ung der Performanc­ekunst mit choreograf­ischen Mitteln“, sagt Sebastian Schulz, „komplexer arrangiert und mit weniger Glauben an Unmittelba­rkeit und Echtheit.“Für ihre künstleris­che Arbeit werden Billinger & Schulz, die am Gießener Institut für angewandte Theaterwis­senschaft studiert haben, in- zwischen vom Land NRW und den Städten Düsseldorf und Frankfurt gefördert.

Trotz der Länge des Abends: Den letzten Teil von „us hearing voices“sollte man nicht versäumen. Auf Grundlage der „Wahren Geschichte­n“von Lukian beherrsche­n identitäts­verwirrte Androiden das Geschehen. Nach einer Ouvertüre mit Howard Carpendale­s „Hello again“durchleben sie Existenzen mit Gewaltpote­nzial. Das wieder erbaute Holzhaus und dessen Vorfläche sind jetzt, umgeben von schnell errichtete­n Zäunen, zum Exerzierpl­atz für Quälereien geworden.

Schade nur, dass man ohne die Möglichkei­t zum Applaus aus dem Saal des Tanzhauses entlassen wurde.

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Szene aus dem letzten Teil der Trilogie „Unlikely creatures“.
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