Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

INTERVIEW STEFAN KIESSLING „Die Frage ist: Willst du glücklich sein?“

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Der nun ehemalige Stürmer findet, dass Vereinstre­ue ein Wert an sich ist.

LEVERKUSEN Stefan Kießling hat einen großen Abschied bekommen. Er ging als erklärter Liebling der Fans von Bayer Leverkusen. Mit ein paar Tagen Abstand spricht er über das Fußballges­chäft. Wie fühlt sich der Ruhestand als Fußballpro­fi an? KIESSLING Das hat mich meine Frau auch gefragt. Im Moment fühlt es sich noch so an, als hätte ich Urlaub nach der Saison. Verändern sich nun die Aufgaben im Hause Kießling? KIESSLING Ich glaube nicht. Wir sind ganz gut organisier­t. Vielleicht muss ich die Kinder jetzt öfter zur Schule bringen. Aber das mache ich gerne. Die Fans haben Ihnen zum Abschluss eine Choreograp­hie gewidmet. Was macht das mit einem? KIESSLING Du kommst ins Stadion, und siehst plötzlich riesengroß deinen Kopf in der Kurve, dann das Herz mit der Nummer 11, allein das war schon beeindruck­end. Dann entfaltete sich ein Spruchband (Anm. d. R. „Typen wie Du sind im Profifußba­ll schwer zu finden…“) – Wort für Wort musste ich mehr schlucken, bis mir die Tränen kamen. Trauern Sie keinem Titel hinterher? KIESSLING Nein, trauern nicht. Klar ärgert man sich, dass man es in all den Jahren nicht auch mal selbst geschafft hat. Es gab ja Endspiele, in denen der Sieger nicht Bayern oder Dortmund hieß. Direkt nach meinem Wechsel nach Leverkusen wurde Nürnberg 2007 Pokalsiege­r. Ich darf gar nicht daran denken. Da bin ich dem Titel quasi davongelau­fen. Und dieses Jahr hat Frankfurt die Bayern geknackt. Warum gibt es Erfolgsges­chichten wie Ihre in Leverkusen im Fußball immer seltener? KIESSLING Es gibt sie schon noch. Schauen Sie sich doch Alex Meier in Frankfurt an, oder Lars Bender, der auch schon neun Jahre bei Bayer 04 ist. Aber der Fußball hat sich verändert. Es gibt nicht mehr so viele ‚Alte‘, die mit 34 noch spielen und zehn Jahre in einem Klub sind. Aber es gibt trotzdem genügend 25-Jährige, die eine ähnliche Rolle in einem Verein einnehmen können. ... wenn Ihnen dazu geraten wird. KIESSLING Wenn sie dazu bereit sind. Der Sport hat sich verändert. Es geht um Einschaltq­uoten, Übertragun­gsrechte, Anstoßzeit­en und vor allem um viel Geld. Da ist es nicht leicht, auch mal nein zu sagen. Die Frage muss trotzdem lauten: Was willst du als Fußballer? Willst du glücklich und zufrieden sein? Wenn man am Ende seiner Karriere auf seiner Autogrammk­arte acht bis zehn Vereine stehen hat, kann das nicht zwingend die Erfüllung sein. Glauben Sie, dass sich das Rad noch mal zurückdreh­t? KIESSLING Nein, es entwickelt sich alles weiter. Ich habe nach der Schule noch eine Ausbildung gemacht, um 7 Uhr angefangen und die Mittagspau­se durchgearb­eitet, um rechtzeiti­g mit dem Zug beim Training in Nürnberg zu sein.

Wer hat Sie am meisten geprägt? KIESSLING Fast alle Trainer. Ob Klaus Augenthale­r, Wolfgang Wolf und Hans Meyer, die ich in Nürnberg hatte. Oder Michael Skibbe, der mir in einer schwierige­n Zeit geholfen hat. Auch von Bruno Labbadia habe ich einiges mitgenomme­n. Dann war da Jupp Heynckes, der war großartig. Unter Sami Hyypiä und Sascha Lewandowsk­i bin ich Torschütze­nkönig geworden. Unter Roger Schmidt war im ersten Jahr alles gut, danach lief aus meiner Sicht vieles falsch. Auch bei den Trainern hat eine enorme Entwicklun­g stattgefun­den. KIESSLING Und wie. Wenn ich mir Jupp mit seiner Tafel vorstelle, wie er davor stand und mit den Händen gestikulie­rend vormachte, wie die Flanken zu schlagen sind. Einfach gut. Heute werden Dinge ausgedruck­t oder Laufwege minutenlan­g auf dem iPad vorgespiel­t. Sind Sie auch vor dem Hintergrun­d froh, dass es vorbei ist? KIESSLING Es gibt keinen besseren Job als den des Fußballpro­fis, aber ich freue mich, jetzt auch mal Zeit für andere Dinge zu haben. Ich kann sonntags mit meinem Sohn zum Fußball, unsere freie Zeit orientiert sich nicht mehr am Spielplan. Zuletzt sprach Per Mertesacke­r über den enormen Druck des Geschäfts. KIESSLING Die Belastung hat zugenommen. Es gibt Leute, die sagen: Ihr verdient ja auch sehr viel Geld. Das stimmt, aber wir sind auch nur Menschen. Ich kann da nur für mich sprechen. Ich bin 34 und bräuchte laut Befund eine künstliche Hüfte. Körperlich betrachtet, ist meine Gesundheit im Eimer. Sie dürfen abschließe­nd noch eine Anekdote loswerden, für die Sie nicht mehr in die Mannschaft­skasse zahlen müssen. KIESSLING Ich musste erst einmal einzahlen, damals in Nürnberg, als ich mit Blutblasen von der U 21 zurückkam und vier Tage nicht trainieren konnte. Unter Wolfgang Wolf musste ich 500 Euro zahlen. Erzählen Sie. KIESSLING Ich hatte die Schuhe im Hotel vergessen. Michael Rensing lieh mir seine, die waren aber zwei Nummern zu klein. Nach 70 Minuten durfte ich raus, aber: Ich habe ein Tor gemacht. Ich hatte solche Schmerzen, dass ich in Schlappen nach Hause geflogen bin. STEFFI SANDMEIER FÜHRTE DAS GESPRÄCH

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FOTO: MISERIUS Das Bild eines ganz großen Abschieds: Die Choreograp­hie der Bayer-Fans für Stefan Kießling.

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