Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Ohne Gewalt zusammenle­ben

- VON JULIA ZUEW

Okhan Eryilmaz war früher gewalttäti­g. Nun will der 32-jährige Vater anderen Tätern helfen, ihre Aggression­en zu bewältigen.

Einige Jungen spielen Fußball. Plötzlich beginnen zwei Kinder aus der Gruppe, sich zu streiten. Einer von ihnen ist Okhan Eryilmaz. Wenige Sekunden später gehen sie aufeinande­r mit den Fäusten los. „Da war ich zehn Jahre alt, glaube ich“, sagt Eryilmaz. Wenn er, sein Bruder und die anderen Kinder aus der Nachbarsch­aft Fußball gespielt hätten, seien sie immer glücklich gewesen. „Aber das ging manchmal von jetzt auf gleich, dann kippte das – und wir haben uns geprügelt. Wir kannten das überhaupt nicht anders.“

Ähnlich wie Eryilmaz gehe es vielen Teilnehmer­n des Anti-GewaltTrai­nings, das in Viersen und Krefeld angeboten wird, sagt Anti-Gewalt-Trainer Semi Ayadi: „Viele lernen Gewalt bereits als Kinder kennen.“Ayadi ist unter anderem als Dozent für das Katholisch­e Forum für Erwachsene­n- und Familienbi­ldung in Krefeld und Viersen tätig. Das Gruppen-Training bietet der katholisch­e Verein für soziale Dienste in Krefeld (SKM) an. Die meisten Teilnehmer werden von der Justiz vermittelt. Ayadi: „Für viele ist es eine Auflage, andere machen das, weil eine Verhandlun­g ansteht und sich ein absolviert­es Training zu ihren Gunsten auf das Urteil auswirken kann.“Die wenigsten kämen aus purer Eigeniniti­ative zu den Sitzungen. Bei nahezu allen Teilnehmer­n ist aber eines gleich: Die Täter sind oft selbst Opfer gewesen, mit Schlägen und Beleidigun­gen aufge- wachsen. „Es reicht, wenn ein Kind sieht, wie die eigene Mutter zu Hause geschlagen wird – das ist ein lebenslang­er Schaden“, sagt Eryilmaz. „Ich bin froh, dass mein Kind das nie erleben wird.“Wer Gewalt zu Hause erlebt und Opfer wird, gibt das höchstwahr­scheinlich ebenso an seine Kinder weiter – davon zeigt sich der junge Vater überzeugt.

Nur bei Rangeleien auf dem Fußballpla­tz blieb es für Eryilmaz nicht: „Für mich war es später normal, einem Paketboten die Nase zu brechen, weil er eine Hausnummer sucht.“Oder einen Fahrradfah­rer zu beleidigen, weil er seinen Weg gekreuzt hat. Verbal gestritten habe er sich selten, „ich hatte immer eine sehr geringe Hemmschwel­le, bevor ich zuschlug“, sagt Eryilmaz. „Im Rückblick finde ich das schrecklic­h. Es fällt mir immer noch schwer, daran zu denken und darüber zu reden, wie ich früher zu anderen Menschen war.“Seine letzte Anzeige wegen gewalttäti­gen Verhaltens erhielt er mit 25 Jahren. Das Anti-GewaltTrai­ning folgte aber erst Jahre später – nachdem ein Streit mit seiner Ehefrau eskaliert war und die Polizei dazukam. Dass ehemalige Täter offen über ihr früheres Verhalten und ihre Vergehen sprechen, ist wichtig, findet Ayadi. Insbesonde­re im Fall von häuslicher Gewalt schämen sich meist nicht nur Opfer, sondern auch die Täter: „Das ist ein sehr schweres Thema. Auch in den Gruppentre­ffen dauert es meistens, bis jemand das Schweigen bricht“, sagt der Sozialpäda­goge. Anschließe­nd zeichnen die Teilnehmer ihre Biografie auf: In Höhen und Tiefen eingeteilt, eine Art Meilenstei­ne, die mit einer Kurve verbunden werden. „Wir arbeiten mit einer Mischung aus verschiede­nen psychologi­schen Ansätzen“, sagt Ayadi. Wichtig sei dabei, Gefühle anschaulic­h zu machen. Dazu gehört beispielsw­eise die sogenannte Eskalation­streppe, auf der die Teilnehmer beobachten können, wie es überhaupt zur aggressive­n Reaktion kommt. Sein Leben und sein Gefühlsleb­en aus der Distanz zu betrachten, sei wesentlich­er Bestandtei­l des Trainings – und sehr emotional, sagt Ayadi.

„Für mich war damals eine Welt zusammenge­brochen“, sagt Eryilmaz und erinnert sich an die Wochen und Monate nach dem gewaltsame­n Ehestreit. „Für mich war es das Schlimmste, was ich jemals getan hatte.“Vier Jahre sind seitdem vergangen. Mittlerwei­le hat er den Entschluss gefasst, selbst eine Ausbildung zum Anti-Gewalt-Trainer zu machen. „Ich habe an Semis Seite auch mehrmals das Training als ehemaliger Teilnehmer vorgestell­t“, sagt Eryilmaz, „zum Beispiel bei der Polizei in Viersen.“Im Mai soll die Trainer-Ausbildung für ihn beginnen. Eryilmaz: „Ich möchte Menschen wie mir früher zeigen, dass es einen anderen Weg gibt.“

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