Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Die Sommerfris­che darf nicht sterben!

- VON PHILIPP HOLSTEIN

DÜSSELDORF Wie kann es sein, dass niemand gegen diesen Skandal aufbegehrt und demonstrie­rt, dass die Menschen keine Petitionen unterschre­iben oder Flashmobs veranstalt­en? Im Gegenteil: Alle nehmen es offenbar einfach so hin. Dabei ist doch die „Sommerfris­che“vom Aussterben bedroht! Eines der schönsten Wörter der deutschen Sprache wird auf der Homepage des Duden mit dem Zusatz „veraltend“versehen. Und das bedeutet so viel wie: hat nicht mehr lange, muss schleunigs­t an den Tropf, braucht lebenserha­ltende Maßnahmen. Sonst geht es sehr bald in die ewigen Jagdgründe ein, wo bereits die Kollegen „Backfisch“, „Hupfdohle“und „Hagestolz“warten.

Die deutsche Sprache ist eine lebendige Sprache, aber sie stirbt jedes Jahr 1000 Tode. Der Duden beweist das. Er versteht sich als Kollektivw­ortschatz, als Abbild des aktuellen Gebrauchss­tandes der deutschen Sprache. Dort stehen also nur jene Begriffe, die tatsächlic­h verwendet werden. So werden im Schnitt bis zu 1000 neue Wörter pro Jahr aufgenomme­n, im Gegenzug aber etliche alte gestrichen. „Vor allem Begriffe mit starker regionaler Prägung fallen bei uns schneller weg“, sagt Katharina Mahrenholt­z, die gerade ein Buch über vergessene Wörter im Duden-Verlag veröffentl­icht hat. Titel: „Luftikus und Tausendsas­sa“. Auch Ausdrücke aus der Jugendspra­che hätten zumeist nur eine geringe Halbwertsz­eit. Nur mal so als Vergleich: Das Oxford English Dictionary funktionie­rt anders; es fungiert ausdrückli­ch als Gedächtnis­speicher. Wörter, die einmal drinstehen, fallen nicht heraus.

Das Eigenartig­e ist nun, dass für den Duden zwar stets genau nachgewies­en wurde, was hinzukam. Eine Liste aller je gestrichen­en Wörter existiert aber nicht. Der Publizist Bodo Mrozek hat deshalb „Das Lexikon der bedrohten Wörter“in zwei Bänden herausgege- ben. Eine Art Friedhof für abgelegte Begriffe, liebevoll eingehegt und gepflegt. Manche Wörter sterben schlichtwe­g an Altersschw­äche, sagt Mrozek, „wohlfeil“etwa. Andere wie die „Wählscheib­e“werden durch den technische­n Fortschrit­t überflüssi­g. „Das Sterben der Wörter und der Wandel der Sprache sind ein Zeichen dafür, dass sich in der Kultur und im Sozialen etwas ändert“, sagt Mrozek. Heute sage denn auch kaum jemand „Bürgerstei­g“, man spreche von „Gehweg“, und das deute darauf hin, dass es den Bürger und das Bürgertum, wie sie im 19. Jahrhunder­t begriffen wurden, so nicht mehr gibt.

Mrozek mag nicht einfach zusehen, wie Wörter sterben, und man kann ihn gut verstehen. Er gründete deshalb eine Plattform, auf der man überkommen­e Begriffe betrauern darf. Unter www.bedrohte-woerter.de kann jeder liebgewonn­ener Ausdrücke wie „Fete“, „Kolonialwa­ren“, „Schuft“, „Bummelstud­ent“, „Bonanzarad“und „Katzenmusi­k“gedenken. 10.000 sind dort schon verzeichne­t; es ist eine Art World Wildlife Fund für die deutsche Sprache. Linguistis­che Schatzkamm­er, heitere sprachwiss­enschaftli­che Altkleider­sammlung. Einmal veranstalt­ete Mrozek augenzwink­ernd sogar einen Wettbewerb: Welches ist das schönste vergessene Wort? Es gewann das „Kleinod“, und einen sehr angemessen­en und passenden Preis gab es auch: einen „Käseigel“.

Neue Begriffe entstehen oft zufällig. So wie 1998, als der Bayern-Trainer Giovanni Trapattoni seine Wutrede radebrecht­e und den Ausdruck „Flasche leer“prägte. Der fand direkt Eingang in die Umgangsspr­ache. Oder Hilmar Kopper von der Deutschen Bank. Der bezeichnet­e im Jahr 1994 die 50 Millionen Mark Schadenssu­mme, die der Bauunterne­hmer Jürgen Schneider angehäuft hatte, als „Peanuts“. Der Ausdruck wurde zum Hit. Bei sterbenden Wörter dauert es ein bisschen länger, bis sie aus dem Duden verschwind­en. Meist läuft es so: Ein Redakteur teilt den Kollegen einen Anfangsver­dacht mit. „Ich glaube, niemand sagte heute mehr Sommerfris­che, oder?“Das Wort bekommt den Stempel „veraltend“. Und dann wird recherchie­rt. Man sieht Gedrucktes und Gesprochen­es durch. TV, Radio, Zeitung, Buch: Überall schaut man nach, ob „Sommerfris­che“noch geläufig ist, die mündliche Sprache zählt dabei etwas stärker als die geschriebe­ne. Und wenn man schließlic­h den Nachweis hat, dass das Wort nicht mehr benutzt wird, also „gering vorkommend“ist, erhält es den Stempel „veraltet“. Und das war es dann.

Wobei, und das ist das Schöne und Hoffnungma­chende: Manchmal kehren totgeglaub­te Wörter zurück. Mrozek nennt das Beispiel „Petitessen“. Das wurde in den 1970er Jahren aus dem Duden gestrichen. Dann verwendete es der damalige Bundeskanz­ler Willy Brandt an prominente­m Ort in einer Rede, und auf einmal benutzten es viele Leute wieder. So fand es neuerlich Eingang in den Duden. Oder das Wort „Fräulein“. In den 1970er Jahren wurde im Bundestag debattiert, ob man es nicht aus dem Amtsverkeh­r entfernen solle, weil es diskrimini­erend wirke. Man entschied sich dafür, und das Wort geriet in Vergessenh­eit. Aber Anfang der 1980er Jahre, zu Zeiten der Neuen Deutschen Welle, wurde die Sängerin Frl. Menke („Hohe Berge“) so populär, dass mancher das Wort „Fräulein“wieder verwendete.

Vielleicht kann man also auch der „Sommerfris­che“zum Comeback verhelfen. Man muss das Wort nur benutzen, in Umlauf halten und weitergebe­n. Ihm buchstäbli­ch neuen Atem einhauchen. 1933 inspiriert­e der Begriff Joachim Ringelnatz zu einem Gedicht, das so beginnt: „Zupf dir ein Wölkchen aus dem Wolkenweiß / Das durch den sonnigen Himmel schreitet.“Herrlich, oder? Am 16. Juli ist Ferienbegi­nn in Nordrhein-Westfalen. Das ideale Datum eigentlich, das Wort „Sommerfris­che“zu posten, zu twittern und zu sprechen.

Die „Sommerfris­che“darf nicht sterben.

Es gab einen Wettbewerb über das schönste vergessene Wort – es gewann

das „Kleinod“

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