Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Große Leser

- VON LOTHAR SCHRÖDER

Blinde Bibliothek­are und leidenscha­ftliche Bücherlieb­haber: Der Argentinie­r Alberto Manguel erzählt von seiner Welt,

die vor allem aus Büchern zusammenge­halten wird

Dieser Tag hat für Alberto Manguel so begonnen wie fast alle anderen Tage zuvor auch: mit ein paar Seiten aus Dantes „Göttlicher Komödie“. Das ist für den 70-jährigen Argentinie­r mehr als ein liebgewonn­enes Ritual, auch mehr als das literarisc­he Interesse an einer der größten Schöpfunge­n der Weltlitera­tur. Manguel tritt mit dieser Lektüre aus den Träumen in die Welt hinaus – mit Dantes Werk und diesem unerhörten Versuch, ein Universum gänzlich aus Worten zu schaffen.

Das klingt sehr pathetisch, und das ist es vielleicht auch. Doch für ihn sind Bücher Bausteine unserer Welt, in ihrer ganzen Rätselhaft­igkeit, bezaubernd­en Schönheit und Unergründl­ichkeit. Alberto Manguel liest nicht, weil er existiert, sondern er existiert, weil er liest.

Richtig verständli­ch wird das erst, wenn man das Rad der Zeit kräftig zurückdreh­t. Dann nämlich sitzt man nicht mehr dem dezenten und sorgsam gekleidete­n Herrn gegenüber, sondern sieht den Schüler Alberto vor sich, wie er in der argentinis­chen Nationalbi­bliothek den Direktor besucht – den legendären Jor- ge Luis Borges (1899-1986), wie er ihn schließlic­h nach Hause begleitet und ihm dann die Weltlitera­tur vorliest. Buch für Buch und Jahr für Jahr.

Borges war 1955 zum Direktor der riesigen Bibliothek ernannt worden und erblindet. Gott habe ihm in seiner Ironie „alle Bücher und die Nacht geschenkt“, beschrieb er sein Schicksal eher amüsiert denn verbittert. Borges war schon der vierte blinde Direktor der Nationalbi­blio- thek von Buenos Aires. Als schwebe ein Fluch über diesem Amt, das seit knapp drei Jahren auch Alberto Manguel bekleidet.

Eine unheilvoll­e Nachfolge? Wer weiß das schon? Auf jeden Fall ist es für ihn kein Grund zu verzagen. Im Gegenteil: Manguel macht genau das, was jeder leidenscha­ftliche Bibliothek­ar am liebsten tut: Bücher zu horten, massenhaft. „Eine Bibliothek ist ein Platz ohne Grenzen“, sagt er mit aller Selbstvers­tändlichke­it dieser Welt. „Sie muss grenzenlos sein, weil es niemals das finale Buch und den finalen Leser geben wird.“

Was das heißt, ist seit 2015 in Buenos Aires zu erleben. Fünf Millionen Bücher zählte der Bestand der Bibliothek, und jedes Jahr kamen 10.000 neue Bücher dazu. Bis Manguel im ersten Direktoren-Jahr zunächst 100.000 Werke anschaffte, 200.000 im Jahr darauf. 2018 wird auch diese Zahl massiv übertroffe­n. Dass Bibliothek­en aus allen Nähten platzen, hält er für normal. In Buenos Aires schien man darauf nicht unbedingt vorbereite­t zu sein. Eine größere Anzahl von Büchern musste bereits in Hallen des Flughafens deponiert werden.

Bücher sind für Alberto Manguel immer mehr als nur Bücher, mehr als Geschichte­n. Seine Beziehung zur Literatur sei physischer Natur: „Das Buch, das ich lese, möchte ich besitzen, auch deshalb, um dort etwas hineinschr­eiben zu können. Außerdem markiert jedes Buch eine Zeit und einen Ort meines Lebens – nämlich wann und wo ich das Buch gelesen habe. Das ist wichtig für mich.“So gesehen ist Manguel seit geraumer Zeit ohne Heimat: Seitdem er seinen zwischenze­itlichen Lebensmitt­elpunkt Frankreich aufgab und seine Privatbibl­iothek – in Kisten verpackt – in Montreal deponieren musste. „Ich habe noch keine Idee, was mit meinen Büchern passieren wird“, sagt er.

Fest steht nur eins: Wenn seine Arbeit an der Nationalbi­bliothek von Argentinie­n beendet ist, will er nach New York gehen und an den Universitä­ten von Princeton und Columbia lehren. Das mag ein guter Platz zum Leben sein, für viele Bücher aber nicht. Wenn man kein Multi-Multi-Millionär sei, so Manguel, „kann man sich in New York keine Wohnung leisten, die größer ist als dieser Tisch hier“. Zumal ja auch das Depot ständig wächst. Alle sechs Monate wird eine neue Fuhre an Büchern gen Montreal auf die Reise geschickt.

Verloren ist seine Bibliothek noch nicht, wohl aber verborgen. Und darüber hat Manguel – natürlich – wiederum ein Buch geschriebe­n: „Die verborgene Bibliothek“. Über die Büchersamm­lungen dieser Welt, in unseren Köpfen, über die Kunst des Lesens und das Nachdenken über Verluste. Vielleicht, so schreibt Manguel, ist ja „alles menschlich­e Streben gezeichnet von der unterschwe­lligen Erwartung, zu verlieren, was man gewonnen hat“.

Doch das klingt nach falscher, noch viel zu früher Befriedigu­ng, also mehr nach Trost als nach wirklicher Überzeugun­g. Denn jede Bibliothek ist eine Art Autobiogra­phie ihres Sammlers. Und sie ist zugleich ein Widerstand gegen das Chaos dieser Welt. Der unmögliche Traum einer Ordnung ist für ihn nichts an- deres als der Traum von einer Bibliothek.

Auch solche heroischen Büchermome­nte sind längst beschriebe­n und große Literatur geworden. „Die Bibliothek ist ein großes Labyrinth, Zeichen des Labyrinthe­s der Welt. Trittst du ein, weißt du nicht, wie du wieder herauskomm­st. Man soll die Säulen des Herkules nicht antasten.“Das sind berühmte Sätze aus Umberto Ecos Mittelalte­r-Epos „Der Name der Rose“. Im Mittel- punkt steht die Klosterbib­liothek, die damals größte der gesamten Christenhe­it. Doch der Plan, nach dem sie einst entstand, kennt allein der Bibliothek­ar, der das Geheimnis wiederum von seinem Vorgänger erfuhr.

„Allein der Bibliothek­ar hat das Recht, sich im Labyrinth der Bücher zu bewegen, er allein weiß, wo die einzelnen Bände zu finden sind“. Jorge heißt er im Roman, und blind ist er auch. Umberto Ecos Weltbestse­ller ist somit die große, keineswegs nur liebenswer­te Hommage an Borges.

Kennt Manguel das Geheimnis der Bibliothek, überliefer­t von dem, dem er vorlas und der sein Vorgänger im Amt wurde? Mag sein, dass er es kennt, ohne es zu wissen. Bücher können warten.

Und morgen früh wird sich Manguel wieder Dantes „Göttlicher Komödie“widmen. So, wie es einst auch Jorge Luis Borges jeden Morgen tat.

In Buenos Aires ahnte man nicht, dass die Bibliothek aus allen Nähten platzen könnte

Morgen früh wird sich Alberto Mangeul wieder Dantes „Göttlicher Komödie“widmen

 ?? FOTO: JAUCH UND SCHEIKOWSK­I ?? Szene aus der Verfilmung „Der Name der Rose“mit dem blinden Bibliothek­ar.
FOTO: JAUCH UND SCHEIKOWSK­I Szene aus der Verfilmung „Der Name der Rose“mit dem blinden Bibliothek­ar.
 ?? FOTO: BNA ?? Die argentinis­che Nationalbi­bliothek in Buenos Aires.
FOTO: BNA Die argentinis­che Nationalbi­bliothek in Buenos Aires.

Newspapers in German

Newspapers from Germany