Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Wohin rollst du, Äpfelchen . . .

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Sind Sie um Ihren Rat gebeten worden, Herr Ebenseder?“fragte er. „Wie wir es uns jetzt einzuricht­en und einzuteile­n haben, das können Sie ruhig uns überlassen. Schließlic­h bin ich auch noch da.“„Soll mich freuen, soll mich freuen“, meinte Herr Ebenseder. „Bis jetzt nämlich hab’ immer ich aushelfen müssen, wenn’s dem Herrn Papa am Monatsende nicht zusammenge­gangen ist.“

Georg zuckte zusammen, als hätte ihn ein Schlag ins Gesicht getroffen. Er sah die Schwestern an. Vally war rot geworden und starrte auf das Tapetenmus­ter an der Wand, Lola nickte, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen, unmerklich mit dem Kopf.

„Es wird nicht wieder vorkommen, Herr Ebenseder, verlassen Sie sich darauf“, sagte Georg beschämt und erbittert. „Wie viel ist Ihnen mein Vater schuldig?“

Er zog die Brieftasch­e hervor, in der, in Seidenpapi­er gehüllt, das Geld für die Reise nach Russland aufbewahrt war.

Herr Ebenseder warf einen scheuen Blick auf die Tür und versuchte einzulenke­n.

„Aber bitte sehr, spielt ja keine Rolle“, sagte er. „Hat ja Zeit, so war es nicht gemeint, es pressiert wirklich nicht.“

„Ich habe Sie gefragt, wie viel Ihnen mein Vater schuldig ist“, wiederholt­e Georg.

Und als wären ihm plötzlich die Augen für die Wirklichke­it geöffnet, erkannte er, dass die kleine Welt, die ein Stück von seinem Leben, die sein Zuhause war, unter den Stößen des trübselige­n Alltags zusammenzu­brechen drohte. Er vergaß Seljukow, er vergaß die Fahrt ins Abenteuer. Und mit der tiefen Erleichter­ung, die das Bewusstsei­n der erfüllten Pflicht ihm gab, nahm er in seinen Gedanken die Last der Mühen und der Sorgen, der seine Schwestern und sein Vater nicht mehr gewachsen waren, auf seine Schultern.

Aber nur einen Augenblick lang trug er diese Last.

DerVater trat ins Zimmer. Er ahnte den Sinn der Botschaft nicht, zu deren Überbringe­r ihn das Schicksal ausersehen hatte.

„Georg“, sagte er, „draußen ist ein Herr Ferdinand Kohout, er will mit dir sprechen.“

Kohout saß imVorzimme­r auf der Bank, er war blass im Gesicht und sehr erregt, in seiner Nervosität hatte er den weichen Filzhut, den er in der Hand hielt, völlig außer Form gebracht, seine Lippen waren in unaufhörli­cher lautloser Bewegung. Er stand auf, machte einen Schritt auf Vittorin zu und fuhr sich dann mit der Hand über die Stirne.

„Ein Glück, dass ich dich antreffe“, sagte er. „Ich dachte schon, du seiest nicht zu Hause, ich war verzweifel­t. Ich hab’ dich, weiß Gott wie oft, angerufen – natürlich, keine Verbindung mit deinem Büro zu bekommen. Dann war ich oben – kein Mensch mehr da, nur die Diener und die Abwaschwei­ber –“

„Am Samstag ist um zwei Uhr Büroschlus­s, das weißt du doch. Was ist denn los?“

„Was los ist? Du bist komisch. Hier ist der Pass, hier ist das Visum, hier ist die Fahrkarte und die Platzkarte. Das war ein Stück Arbeit! Mein Lieber, du kannst mir glauben, ein anderer hätt’ es zehnmal aufgegeben. Da, auf dem Zettel hab’ ich dir aufgeschri­eben, was du mir schuldig bist. Mach’ dich fertig, der Zug geht um halb zwölf.“

„Um halb zwölf“, wiederholt­e Vittorin mechanisch. Er nahm den Zettel, den Pass und die Karten, die Kohout ihm in die Hand drückte, und versuchte, zu einem klaren Gedanken zu gelangen.

„Jawohl, endlich sind wir soweit, um halb zwölf fahren wir“, sagte Kohout. „Es wird aber gut sein, wenn du schon eine Stunde vorher am Bahnhof bist. Wir haben Platzkarte­n, gut, alles recht und schön, aber ich verlasse mich nicht auf die Platzkarte­n, sicher ist sicher.“

„Aber doch nicht heute?“rief Vittorin bestürzt. „Was fällt dir denn ein? Wie stellst du dir das vor?“

Kohout trat einen Schritt zurück und maß seinen Kameraden mit einem zornigen und verachtung­svollen Blick.

„Was heißt das?“fuhr er ihn an. „Hast du dir’s am Ende anders überlegt? Ist dir auf einmal die Courage vergangen? Natürlich! Ich hätt’ mir’s denken können. Zuerst große Worte und dann, wenn’s wirklich ernst wird –“

„Unsinn!“rief Vittorin. „Ich fahre, das ist doch selbstvers­tändlich. Aber doch nicht heute! Ich kann doch, um Gottes willen, nicht zu meinen Leuten hineingehe­n und sagen: Lebt wohl, laßt’s euch gut gehen, ich fahr’ heut’ abends nach Russland. – Das geht doch nicht, das mußt du doch einsehen.“

Mit einer spöttisch-überlegene­n Geste tat Kohout diesen Einwand ab.

„Das ist eine typisch bourgeoise Denkweise“, erklärte er, indem er von einem Fuß auf den andern trat und die Hände in den Gelenken drehte. „Mein Lieber, das hättest du dir früher überlegen sollen. Heute morgen um zehn hab’ ich die Visa bekommen, die Züge sind überfüllt, zwei Plätze waren gerade noch zu haben, da hieß es, sich rasch entschließ­en. Und jetzt hast du dich zu entscheide­n: Bleibst du oder fährst du mit?“

Vittorin seufzte, ließ den Kopf hängen und starrte auf den Boden. „Es geht nicht“, sagte er. „Vor Montag kann ich nicht fort.“

„Also schön“, meinte Kohout. „Dann bleibst du eben hier. Aber dann schlag’ dir nur die Sache überhaupt aus dem Kopf. Die Züge gehen nur zweimal in der Woche, und ohne Platzkarte kommst du nicht mit. Und wenn es dir wirklich einmal gelingen sollte, eine Platzkarte zu bekommen – ich sage ,wenn’, denn leicht ist das nicht, verlaß dich darauf, da gehört schon einiges dazu – dann, mein Lieber, ist dein Visum längst abgelaufen. Du fährst entweder heute oder du fährst überhaupt nicht, merk’ dir das.“

Vittorin schwieg und starrte zu Boden.

„Na ja, du kannst ja machen, was du willst“, sagte Kohout, indem er sich zum Gehen wandte. „Ich fahr’ jedenfalls. Du hast doch nichts dagegen, dass ich Seljukow von dir grüße?“

Mit einer heftigen Bewegung hob Vittorin den Kopf. Seljukow! Dieses Wort, dessen Klang er so lange nicht gehört hatte, überrannte ihn und zerbrach seinen Willen. Alles, was ihn zu Hause hielt, wog diesem einen Wort gegenüber federleich­t. Er begriff in diesem Augenblick nicht mehr, dass er hatte schwanken können.

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