Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Im Kopf von Ryuichi Sakamoto
Sehenswerte Künstler-Biographie: Der Dokumentarfilm „Coda“widmet sich dem japanischen Musik-Genie und Oscar-Gewinner.
Die schönsten Momente dieses intensiven Films sind jene, in denen Ryuichi Sakamoto neue Klänge entdeckt oder besonders zufrieden ist mit einem Sound, den er soeben kreiert hat. Da steht er dann in seinem Studio und hört zu, und bevor die Stelle kommt, die ihn so glücklich macht, schaut er in die Kamera, reißt die Augen auf und tippt mit ei
Er spielt auf einem
Klavier, das der Tsunami von 2011 stark
beschädigt hat
nem Zeigefinger in die Luft, als wolle er sagen: „Das ist sie, die endgültige Musik. Hör hin!“Und dann lacht er und nickt, und man würde ihn am liebsten in den Arm nehmen.
Die Dokumentation „Coda“wurde in jener Zeit produziert, da der 66-Jährige sich tatsächlich gern in den Arm hätte nehmen lassen. Es ist das Jahr 2015, Sakamoto leidet an Mundrachenkrebs. Er braucht Ruhe und darf nicht arbeiten, aber er arbeitet doch und schreibt die Musik für den Hollywood-Film „The Revenant“. Er trägt einen Schal, schluckt schwer an den vielen Tabletten und setzt sich ans Klavier. Geht nicht anders, er muss.
Der Japaner Ryuichi Sakamoto ist ein Gigant. Er gründete in den 1970er Jahren die Band Yellow Magic Orchestra, die als japanische Ausgabe von Kraftwerk gilt. Er machte Elektropop; „Computer Games“und „Behind The Mask“waren auch in Europa Hits. Er arbeitete mit David Sylvian und schrieb Soundtracks für Hollywood-Filme wie „Merry Christmas Mr. Lawrence“, in dem er auch eine Hauptrolle an der Seite von David Bowie übernahm, und „Himmel über der Wüste“. 1988 bekam er mit David Byrne von den Talking Heads den Oscar für die Musik zur Bertolucci-Produktion „Der letzte Kaiser“.
Zuletzt veröffentlichte der enorm fleißige Sakamoto unter anderem einige Platten mit dem deutschen Elektro- und Techno-Produzenten Carsten Nicolai alias Alva Noto. Sein großes Thema ist, wie man das Industrielle und Menschengemachte mit der Natur vereint. In „Coda“sieht man ihn im strahlenverseuchten Fukushima. Man begleitet ihn zu Demonstrationen gegen Kernkraft. Als er sich halbwegs von der Krebstherapie erholt hat, geht er an die Arbeit zu seinem inzwischen veröffentlichten Album „async“. Er nimmt Vogelgezwitscher im Wald auf und legt es über Pianoakkorde und elektronische Impulse. Ihm schwebt Musik vor, die die Atmosphäre aus Andrei Tarkowskis Filmklassiker „Solaris“aus dem Jahr 1972 einfängt. Komplexe Klanglandschaften aus Wasser und Wind, die die Geräusche des Alltags immer wieder überlagern.
Stephen Nomura Schible hat „Coda“gedreht, und er reichert seinen Film mit Aufnahmen von Sakamoto-Konzerten an. Er ist so respektvoll und spielt jedes Stück aus, und so hört man eine wunderbare Version von „Merry Christmas Mr. Lawrence“. Sakamoto spielt auf einem Klavier, das der Tsunami in Japan 2011 schwer versehrt hat. Das Wasser hob es auf Schulterhöhe, aber das Klavier überstand das Unglück. Sakamoto ließ es nicht stimmen. Ein Klavier, sagt er, werde mit maschineller Kraft und vielen Tonnen Gewicht in Form gepresst. Wenn es verstimmt ist, deutet das daraufhin, dass die Natur sich den Klang zurückholt. „Das verstimmte Klavier ist dabei, in seine natürliche Form zurückzukehren.“
Man sieht Sakamotos Studio in New York, klar und clean eingerichtet. Er sucht dort nach Klängen. Er streicht mit dem Cello-Bogen an einem Becken, dann mit dem Boden eines Kaffeebechers, und er versinkt geradezu in diesem anschwellenden Ton. Auch am 11. September 2011 war Sakamoto in New York. Und er erinnert sich an die unheimliche Stille. Die Stille ist die Schwester des Schlimmsten. Einmal geht er an dem Warhol-Porträt seines jugendlichen Gesichtes vorüber. Der grauhaarige Mandarin des kristallinen Ambient trifft auf den Popmusiker, der die Geschwindigkeit und den Plastik liebte. Und so wird aus dem Film eine Lebenserzählung.
Eine indes, die auch vom Sterben handelt. „Wie lange habe ich noch?“, fragte Sakamoto, als er die Krebs-Diagnose bekam. Er nahm sich vor, in der verbleibenden Zeit Musik zu schaffen, die bleibt. Und so sieht man ihn am Nordpol, wie er ein Mikrofon in Tauwasser hält, das von einem hunderte Jahre alten Gletscher abfließt. Er fischt nach Tönen, steigt in den Brunnen der Vergangenheit, um zu hören, wie die Natur ohne Menschen klang. Daheim baut er das Rauschen, das er als klarsten und unschuldigsten Sound bezeichnet, den er je gehört hat, in ein Stück für „async“ein.
Ein wenig irritierend ist, dass der Film so tut, als sei Sakamoto alleine auf der Welt. Die Kooperationspartner seiner letzten Platten oder des Soundtracks zu „The Revevant“werden nicht genannt. Dennoch hat man am Ende das Gefühl, man habe Sakamoto verstanden, man habe in seinen Kopf geblickt. Kurz vor Schluss sieht man zu, wie er ein neues Stück baut. Er flicht ein Zitat des Schriftstellers Paul Bowles zwischen die Töne, es stammt aus dem Buch „Der Himmel über der Wüste“, das Sakamoto in vielen Ausgaben besitzt, und es klingt wie die Essenz von Sakamotos Denken.
Es geht so: „Weil wir nichts wissen, denken wir gerne ans Leben als an einen unerschöpflichen Brunnen. Und doch passiert alles nur eine bestimmte Anzahl von Malen. Wie oft etwa wird man sich noch an einen bestimmten Nachmittag aus der Kindheit erinnern, der so tief drinnen Teil von einem ist, dass man sich kein Leben ohne ihn vorstellen kann? Vielleicht noch vieroder fünfmal. Vielleicht nicht einmal das. Wie oft wird man noch den Vollmond aufsteigen sehen. Vielleicht 20 Mal. Und doch scheint alles grenzenlos.“
USA 2017 – Regie: Stephen Nomura Schible, mit Ryuichi Sakamoto, 102 Min.
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