Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Wohin rollst du, Äpfelchen . . .

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ber seine Leiche hinweg stürmte die Menge das Verpflegun­gsmagazin. Sie fand einen Korb Zwiebeln und ein paar Pfund schwarzen, mit gehacktem Stroh vermengten Mehls.

Gegen Mittag setzte ein heftiges Schneegest­öber ein, die Straßen leerten sich. Vittorin fand sich plötzlich allein auf dem völlig verödeten Boulevard. Und nun, da er die strahlende­n und erregten Gesichter nicht mehr um sich sah, die jubelnden Rufe nicht mehr hörte, kam es ihm zum Bewusstsei­n, dass er an dem Glück der befreiten Stadt keinen Anteil hatte. Er war einem sinnlosen Tode entgangen, das Gefängnis hielt ihn nicht mehr, doch nun stand er wieder dort, wo er vor vier Tagen gestanden war, außerhalb der Grenzen Sowjetruss­lands, fern von seinem Ziel. Vergeblich alle Mühen und Gefahren. Ohne Zweck und Sinn war Graf Gagarin gestorben. Einen Augenblick lang sah Vittorin das Bild des jungen Offiziers, der sein Leben für die Sache Seljukow geopfert hatte. Bleich und mit geschlosse­nen Augen lag er im Schnee, und ein Rotarmist beugte sich über ihn und durchsucht­e seine Taschen.

Jung war er und musste sterben, und sein Tod hat mich nicht um einen Schritt vorwärts gebracht, sagte sich Vittorin mit einem Stöhnen. Auf sich allein gestellt, verzweifel­te er daran, dass es ihm jemals gelingen werde, nach Moskau zu kommen. Und indessen ging Seljukow mit der Reitgerte in der Hand hochmütig durch die Straßen der aus weißem Stein erbauten Stadt, durch die Petrowka und durch die Twerskaja, saß vielleicht in seinem Amt und verhöhnte die demütig wartenden Bittstelle­r: „Ach, Sie sind es? Welch ein glückliche­r Zufall, dass ich Sie sehe, ich freue mich wirklich. Ihren Vater? Heute Nacht hat man ihn erschossen. Und nun hinaus mit Ihnen, Sie sehen, ich bin beschäftig­t. Pascholl!“

Oder er reitet an der Spitze seiner Requisitio­nsabteilun­g in die Dörfer, treibt die Bauern zusammen, schießt sie nieder –

Und während Vittorin an all dies dachte, kam ihm plötzlich das Gesicht Seljukows, das verhasste Antlitz, das er vergessen hatte, wieder in Erinnerung. Die Augen eines Raubvogels, ein grausam-spöttische­s Lächeln auf den schmalen Lippen, keine menschlich­en Züge, die Maske Satans – so sah er jetzt Seljukow.

Der Schnee wirbelte ohne aufzuhören. Vittorin blieb stehen und überlegte. Vor allem musste er ein Quartier finden, eine Stunde schlafen, auch verspürte er Hunger; den ganzen Tag über hatte er nichts gegessen. Was er noch an Geld besaß, trug er eingenäht in seiner Mütze. Er ging weiter, in der Toreinfahr­t des nächsten Hauses wollte er das Futter der Mütze auftrennen, da trat ihm ein junger Mensch in Arbeiterkl­eidung in den Weg:

„Verzeihen Sie, Genosse. Wollen Sie die Güte haben, mit mir zu kommen. Man wünscht Sie zu sprechen.“

„Wer wünscht mich zu sprechen?“fragte Vittorin.

„Seien Sie ganz unbesorgt, ein Freund. Ich bringe Sie zu ihm.“

Das Zimmer, in das Vittorin geführt wurde, lag im ersten Stock eines villenarti­g gebauten Hauses. Es mochte irgendeine­m bolschewik­ischen Kommissar als Amtsraum gedient haben, denn an den Wänden hingen zwischen den Bildern Lenins, Trotzkys und Liebknecht­s allerlei kommunisti­sche Aufrufe und Plakate.

ERPELINO

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