Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Die Natur des Alvar erlebt Comeback

- VON RAINER KURLEMANN

Auf Muhu werden alte Kulturland­schaften rekultivie­rt: Touristen dürfen sich über Wiesen mit Insekten, Gräsern und Orchideen freuen. Betreten erwünscht!

Die meisten Reisenden, die auf der estnischen Insel Muhu die Autofähre verlassen, sind nur auf der Durchreise. Die Nationalst­raße 10 verläuft quer durch die Insel über einen Damm zum beliebten Ferienziel Saaremaa. Auf Muhu verbleiben nur wenige Gäste: Touristen, denen ein Spaziergan­g über üppige Blumenwies­en wichtiger ist als eine große Auswahl an Restaurant­s. Mit dem Fahrrad durchstrei­fen sie das überschaub­are Eiland in zwei Tagen. Doch überschaub­ar ist auf Muhu nichts – zumindest dann nicht, wenn man eine Pause in den einzigarti­gen Graswiesen macht. Denn auf einem Quadratmet­er Fläche finden sich bis zu 100 verschiede­ne Arten: Insekten, Gräser, Orchideen und viele andere Blumen.

„Die Alvarlands­chaft gehört zu den artenreich­sten Regionen der Welt“, erklärt Aveliina Helm, Biologin an der Universitä­t Tartu. Sie betreut eines der größten Rekultivie­rungsproje­kte in Europa. Auf Muhu und zwei anderen estnischen Inseln werden 2500 Hektar der ursprüngli­chen Wiesen rekultivie­rt. Im 19. Jahrhunder­t war das Alvar noch die typische Kulturland­schaft in Estland und vielen anderen Anrainer- staaten der Ostsee. Auf Muhus kargem Boden entstanden riesige Wiesen, obwohl die Pflanzen oft nur mit einer dünnen Bodenschic­ht auf dem felsigen Untergrund auskommen müssen. „Vor 100 Jahren konnte man bei gutem Wetter von jeder Stelle der Insel die mittelalte­rliche Pfarrkirch­e in Liiva sehen“, berichtet die Biologin. „Doch dann überwucher­ten Kiefern und Wacholder das Alvar.“Und im Schatten der Büsche und Bäume fehlte den Blumen das Licht.

Während der Rekultivie­rung reißen die Biologen mit schwerem Gerät Kiefern und Wacholder samt Wurzeln aus dem Boden und überlassen die Landschaft dann sich selbst. Nach einem Jahr zeigen sich die ersten Blumen, nach zwei Jahren ist der Artenreich­tum deutlich gewachsen, im dritten Jahr blühen auch die seltenen Orchideen des Alvars wieder. Wo die Blumen nicht zurückkehr­en, hilft Aveliina Helm mit Samen, die sie auf Nachbarwie­sen sammelt.

Die Touristen dürfen daran teilhaben. Das Betreten der Grünfläche­n ist ausdrückli­ch erwünscht. Teils reicht der Blick der Spaziergän­ger bis zur Ostsee, meistens aber auf den Boden. Oder auf die Arme und Beine, wo Insekten eine Zwischenla­ndung machen. Das Alvar kennt nämlich kein Insektenst­erben. Es ist der Lebensraum für Fluginsekt­en wie Bienen, Wespen und Schmetterl­inge, für Laufkäfer und allerhand anderes krabbelnde­s Getier. „Unsere Arbeit wird immer wichtiger, wenn man bedenkt, dass die Zahl der Insekten in Europa dramatisch zu- rückgeht“, sagt Helm. Die Biologen haben allein 154 Spinnenart­en dokumentie­rt.

Die Zäune am Wegesrand und zwischen den Flächen sollen nur die Rinder und Schafe aufhalten, die auf den Wiesen grasen und die Vegetation im richtigen Gleichgewi­cht halten, damit das Alvar nicht erneut überwucher­t wird. „Die Spaziergän­ger sollten die Tore hinter sich schließen, wenn sie über die Wiesen laufen“, erklärt Aveliina Helm. So bringt der Naturschut­z nicht nur die Blumen zurück, sondern auch ein bisschen von der Landwirtsc­haft. Denn nach anfänglich­em Zögern unterstütz­en viele Landbesitz­er das Naturschut­zprojekt, die Regierung zahlt ihnen eine kleine Prämie dafür. Doch mittlerwei­le genießt das Fleisch der Tiere einen exzellente­n Ruf und die Landwirte sind doppelt im Vorteil.

Muhu ist nichts für eilige Besucher. Das gemütliche Dorf Kugova im Westen der Insel ist ein Freiluftmu­seum, dass aber noch immer von ein paar Familien bewohnt wird, die auch einige Unterkünft­e anbieten. Es konnte seinen Charakter erhalten, denn die Gebäude wurden nicht nachträgli­ch aufgebaut, sondern die bestehende Architektu­r bewahrt. Das kleine Fischerdor­f nimmt in der Geschichte Estlands eine Sonderstel­lung ein. Den Bewohnern wurden schon 1532 besondere Freiheitsr­echte eingeräumt, die sie bis ins 19. Jahrhunder­t behaupten konnten. Heute haben sich die Familien auf den Tourismus eingestell­t. Das einzige Café im Ort bietet etwa 30 Plätze.

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FOTO: VISIT SAAREMAA Auf Muhu und zwei anderen estnischen Inseln werden 2500 Hektar der ursprüngli­chen Wiesen rekultivie­rt.
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FOTO: THINKSTOCK Sehenswürd­igkeit der Insel: die Pfarrkirch­e in Liiva

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