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Italiens Tanz in den Abgrund

MEINUNG Tote in Kalabrien und Genua, Flüchtling­sboote und marode Staatsfina­nzen: Italien hat einen Haufen Probleme. Die neue populistis­che Regierung sucht die Schuld überall – nur nicht bei sich selbst.

- VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN

Der traurige Protagonis­t dieses Sommers ist Italien. Seit bald drei Monaten ist eine neue Regierung im Amt, die vor allem durch schockiere­nde Auftritte besticht. Sie weist Flüchtling­sboote in italienisc­hen Häfen ab – oder will die Menschen zumindest nicht an Land lassen, wofür gerade erst der Innenminis­ter Matteo Salvini von der Justiz abgestraft wurde. Doch nicht nur das: In einer Schlucht in Kalabrien wurden vergangene Woche zehn Wanderer Opfer eines unerwartet starken Regenfalls. Kurz zuvor starben 43 Menschen beim Einsturz der Autobahnbr­ücke in Genua. Seither surft die Regierung auf einer Welle der Empörung, die das Land durchzieht.

Noch bevor die Unglücksur­sache festgestel­lt ist, haben die Minister der Regierungs­koalition von Fünf-Sterne-Bewegung und Lega die Schuldigen bereits in der Investoren-Familie Benetton ausgemacht, die die Aktienmehr­heit an der Autobahn-Betreiberg­esellschaf­t hält. Innenminis­ter Salvini, der Mann, der maßgeblich die ultraharte Asylpoliti­k verantwort­et, zeigte sein ganz besonderes Talent als Lippenlese­r der Massen, als er die Sparpoliti­k der Europäisch­en Union (EU) für den Brückenein­sturz mitverantw­ortlich machte. Je unbeliebte­r und ungreifbar­er die mutmaßlich­en Verantwort­lichen sind, desto schneller werden sie in Italien derzeit zu Schuldigen abgestempe­lt.

Die Tendenz ist eindeutig: Nicht nur Flüchtling­e sollen mit immer radikalere­n Methoden abgewehrt werden. Auch die Verantwort­ung für viele Missstände wird kollektiv abgeschobe­n. Die Regierung verstärkt nur einen Effekt, der auch im Kleinen etabliert ist. Selten erkennen die Menschen die Ursache für Missstände bei sich selbst. Es ist viel einfacher, die oft ungreifbar­en Institutio­nen oder andere für die Versäumnis­se verantwort­lich zu machen. Im Fall der ertrunkene­n Wanderer in Kalabrien wur- den schon am Tag nach dem Unglück Stimmen laut, die mangelnde Umsicht der Behörden beklagten. Sie hätten den gefährlich­en Parcours sperren müssen. Von der Eigenveran­twortung der Abenteurer ist keine Rede.

Im Fall der eingestürz­ten Autobahnbr­ücke nutzt die erst seit drei Monaten amtierende italienisc­he Regierung ihren Newcomer-Status skrupellos aus. Sie zeigt voreilig mit dem Finger auf die vermeintli­ch Schuldigen. In ein paar Jahren, sollte das Bündnis dann überhaupt noch im Amt sein, wäre diese Haltung nicht mehr möglich. Das sind die Zukunftsau­ssichten für Populisten, die Kapital aus den Versäumnis­sen der Vergangenh­eit schlagen wollen. Die italienisc­he Regierung befindet sich noch im Honeymoon mit ihren Wählern. Man muss kein Hellseher sein, um das Ende der Romanze vorauszuse­hen.

In Italien sind die Folgen dieser Kurzsichti­gkeit besonders gut zu beobachten. In großen Teilen der Bevölkerun­g haben Pessimismu­s, Enttäuschu­ngen, Angst und eine latente Aggressivi­tät spürbar zugenommen. Schuld sind immer die anderen. Das gilt auch für die italienisc­hen Staatsfina­nzen. Das Land ächzt unter einer Staatsschu­ld von rund 2,3 Billionen Euro. Im Turnus wird das abstrakte Gebilde der EU für die finanziell­e Not der Staatskass­en verantwort­lich gemacht – obwohl etliche nationale Regierunge­n mit horrender Staatsvers­chuldung ihr Land und den Kontinent sehenden Auges ins Dilemma manövriert­en. Seither dreht sich die Diskussion ohne Ergebnis im Kreis. Soll die Wirtschaft mit zusätzlich­en Staatsausg­aben angekurbel­t werden, oder kann der Schuldenbe­rg durch Sparmaßnah­men langsam abgebaut werden?

Im Zuge der türkischen Währungskr­ise ist auch wieder von Italien als finanziell­er Achillesfe­rse der Euro-Zone die Rede. Das auf ununterbro­chenem Wachstum basierende Wirtschaft­smodell bekommt in Italien seit Jahren seine selbstmörd­erischen Aspekte im Spie- gel vorgehalte­n. Es ist zu einfach, auf die unverantwo­rtlichen Südländer zu zeigen, die angeblich auf Pump leben. Dass die Verantwort­ung über die Landesgren­zen hinaus geht, zeigt schon die Tatsache, dass ein Kollaps der italienisc­hen Staatsfina­nzen zumindest europaweit­e Folgen hätte. Wir sitzen im selben Boot, klagen uns aber gegenseiti­g an.

Die Finanzpoli­tik gibt keine glaubwürdi­gen politische­n Antworten auf diese Misere. Manchmal hat man den Eindruck, nur der Zusammenbr­uch könnte heilende Wirkung entfalten – andernfall­s scheint der Druck zur Veränderun­g zu gering. Damit wäre man wieder bei der eingestürz­ten Autobahnbr­ücke in Genua. Die Stabilität der Brücke war seit Jahrzehnte­n fraglich, Fachleute und politische Entscheide­r haben es aus noch unbekannte­n Gründen versäumt, die Sicherheit des Viadukts zu gewährleis­ten. Auch hier greift es aber zu kurz, ein paar Techniker als Sündenböck­e abzustempe­ln.

Die Frage ist, was aus einer angekündig­ten Tragödie wie in Genua zu lernen sein könnte. Ist es wirklich mit einem großen Investitio­nsplan für die Infrastruk­tur in Italien und akkuraten Sicherheit­smaßnahmen getan? Dabei gibt es auch in diesem Fall Hinweise darauf, dass die Entwicklun­g unserer Gesellscha­ft in einer Sackgasse steckt. Diskutiert wird über Umgehungss­traßen, aber kaum darüber, wie dem Anstieg von Transport und Verkehr beizukomme­n ist.

Das Dogma des unendliche­n Wachstums liegt vielen aktuellen Problemen zugrunde, in Italien drängen sie gerade auffällig an die Oberfläche. Denn auch in der Angst vor der Migration liegt die Sorge begründet, vom Wohlstand eine dicke Scheibe abgeben zu müssen. Kritiker solcher angeblich fortschrit­tsfeindlic­hen Beobachtun­gen wenden ein, hier werde anscheinen­d eine Rückkehr in mittelalte­rliche Verhältnis­se gefordert, mitVölkerw­anderung auf schlammige­n Straßen. Diese Reaktion zeigt, dass wir eines verlernt haben: Alternativ­en zum Konzept des fortwähren­denWachstu­ms überhaupt zu denken.

Manchmal hat man den Eindruck, nur der Zusammenbr­uch könnte heilende Wirkung entfalten

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