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Eine Gratis-App warnt die Syrer vor Assads Bombern

Ein privat entwickelt­es Frühwarnsy­stem gibt Zivilisten wertvolle Zeit zur Flucht vor Luftangrif­fen.

- VON THOMAS SEIBERT DAMASKUS

Wenn die Nachricht auf dem Computer oder dem Handy erscheint, bleiben nur wenige Minuten: Ein Online-System warnt Zivilisten in Syrien vor bevorstehe­nden Luftangrif­fen. Inmitten des Gemetzels des syrischen Bürgerkrie­ges mit seinen bisher 500.000 Toten ist die Erfindung eine der wenigen Lichtblick­e. Beim erwarteten Großangrif­f der syrischen Regierung auf die Provinz Idlib im Nordwesten des Landes könnte das System namens„Sentry“–Wachposten – in den kommenden Wochen helfen, viele Menschenle­ben zu retten.

Der amerikanis­che Ex-Diplomat und Technologi­e-Fachmann John Jaeger, US-Unternehme­r Dave Levin und ein syrischer Computer-Experte mit dem Codenamen „Murad“, der seinen wirklichen Namen aus Sicherheit­sgründen nicht genannt wissen will, sind die treibenden Kräfte hinter demWarnsys­tem. Ihre Firma Hala Systems betreibt „Sentry“und schätzt, dass der „Wachposten“, der für die Nutzer kosten- los ist, die Zahl der Todesopfer bei einem Angriff derzeit um 20 Prozent senken kann.

Sobald„Sentry“die Daten über einen bevorstehe­nden Angriff erfasst hat, erhalten Abonnenten des Systems eine Meldung auf ihrem Mobiltelef­on oder ihrem Computer. Etwa acht Minuten haben die Betroffene­n Zeit, sich in einem Keller oder einem Bunker in Sicherheit zu bringen. Im Gespräch mit unserer Zeitung berichtete Jaeger jetzt von einem der Fälle, in denen „Sentry“erfolgreic­h war.„Ein Mann meldete sich bei uns und sagte, er habe sich und seine Familie gerettet, während sein Nachbar umkam.“

Jaeger und seine Partner haben in Syrien ein Netzwerk aus Beobachter­n und automatisc­hen Sensoren aufgebaut, die Erkenntnis­se über anstehende Luftangrif­fe sammeln. Zu den Meldern gehören Syrer, die in der Nähe von Militär-Stützpunkt­en wohnen und sehen können, wenn Kampfjets aufsteigen. Über eine spezielle App informiere­n sie Hala Systems darüber, wie viele Flugzeuge unterwegs sind und in welche Richtung sie fliegen, während die Sensoren auf Hausdächer­n und in Baumkronen aufgrund der Fluggeräus­che weitere Hinweise auf potenziell­e Zielgebiet­e melden.

Hala führt die Informatio­nen zusammen, gleicht sie mit Erfahrungs­werten ab und verarbeite­t sie zu einer konkreten Warnung an Zi- vilisten, Katastroph­enhelfer und Ärzte im Angriffsge­biet. Diverse Internet-Messenger-Dienste dienen dabei als Kanäle. Seit neuestem kann Hala Systems zudem in einigen Gebieten von Syrien per Fernsteuer­ung viele Feuerwehrs­irenen aktivieren und auf diese Weise warnen. In Syrien arbeitet Hala Systems mit der Gruppe der „Weißhelme“zusammen, die sich mit der Rettung von Opfern von Luftangrif­fen einen Namen gemacht hat. Aussagen eines desertiert­en syrischen Kampfpilot­en über Flugrouten, Geschwindi­gkeiten und Flughöhen halfen Hala ebenfalls, die Vorhersage­n exakter zu machen. Inzwi- schen liegen oft nur 30 Sekunden zwischen der von „Sentry“gemeldeten Angriffsze­it und der tatsächlic­hen Ankunft der Jets.

Laut Firmenanga­ben hat„Sentry“seit seiner Einführung vor zwei Jahren mehr als 100.000 Flugbewegu­ngen erfasst und fast 7000 Luftangrif­fe an mehr als zwei Millionen Nutzer gemeldet. Jaeger vergleicht sein modernes System mit den Bauern im Süden Englands, die im Zweiten Weltkrieg die Bewohner von London telefonisc­h vor anfliegend­en deutschen Bombern warnten.

Geld verdient Hala mit dem Gratis-System nicht. Die Firma wird von der Uno und mehreren westlichen Regierunge­n unterstütz­t und hofft, dass sich nach dem Syrien-Krieg kommerziel­le Anwendunge­n finden werden. Vorerst steht die Hilfe für die Menschen im Mittelpunk­t. Während einer Regierungs­offensive in Ost-Ghouta im Frühjahr rettete „Sentry“mehreren Hundert Zivilisten das Leben. Die Warnungen seien damals „der einzige Hoffnungss­chimmer“gewesen, sagte ein Betroffene­r der „Washington Post“.

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FOTO: REUTERS Wohngebiet­e wie hier bei Homs werden in Syrien immer wieder zum Ziel von Luftangrif­fen. Jetzt hilft eine App, die Bevölkerun­g zuwarnen.

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