Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
„Migrationsfrage ist die Mutter aller Probleme“
Der Bundesinnenminister über den Fall Sami A. und kompromissloses Vorgehen gegen Rechtsextremismus.
BERLIN Innenminister Horst Seehofer kann aus seinem Büro in den Garten des Kanzleramts schauen. Er sieht, wann die Kanzlerin mit dem Hubschrauber kommt und wegfliegt. Von seinem Ministerium aus kann er auch beobachten, wann bei der Nachbarin das Licht ausgeht.
Herr Seehofer, eine brutale Bluttat eines Flüchtlings in Chemnitz, die Empörung der Rechten, dann die Empörung der Linken. Müssen wir uns an diese Bilder jetzt gewöhnen?
SEEHOFER Man muss das alles sauber trennen. An erster Stelle steht ein brutales Tötungsdelikt, das mich aufwühlt. Deshalb stehen die Verurteilung dieser Tat und die Anteilnahme ganz vorne. Zweitens gibt es eine Aufregung und eine Empörung in der Bevölkerung wegen dieses Tötungsdelikts, für die ich Verständnis habe. Ich wäre, wenn ich nicht Minister wäre, als Staatsbürger auch auf die Straße gegangen – natürlich nicht gemeinsam mit Radikalen. Und es gibt – drittens – null Toleranz gegenüber Kräften, die diese Vorkommnisse zum Anlass nehmen, um zu Gewalt aufzurufen oder gar Gewalt auszuüben, auch gegenüber der Polizei. Das ist völlig inakzeptabel, da gibt es keine Schattierungen.
Hat der Osten ein Problem mit Rechtsradikalen?
SEEHOFER Man muss aufpassen, ganze Landstriche an den Pranger zu stellen. Jeder Rechtsbruch wird geahndet. Und wir müssen sie aufarbeiten, überall in Deutschland.
Werden Menschen, die den Hitlergruß zeigen, verfolgt?
SEEHOFER Ja, das wird strafrechtlich verfolgt. Der Polizist muss bei einer Menschenmenge, aus der solche Straftaten oder Provokationen erfolgen, aber immer auch die Gefahrensituation einschätzen, und überlegen, ob er sich eine Person direkt aus der Menge herausholt und dadurch die Situation eskalieren könnte. Deswegen deckt das der Staat nicht. Es muss zwischen der strafrechtlichen Verfolgung und der Gefahr der Eskalation abgewogen werden.
Muss der Kampf gegen Rechtsextremismus schärfer geführt werden?
SEEHOFER Das Vorgehen des Rechtstaats gegen Rechtsextremismus muss kompromisslos geführt werden. Diese Leute sind nicht mit Diskussionen zu besänftigen. Wir sind nicht auf dem rechten Auge blind.
Das können Sie für das BKA und die Verfassungsschutzbehörden sagen?
SEEHOFER Ja, natürlich.
Einer der mutmaßlichen Täter in Chemnitz war ein abgelehnter Asylbewerber. Hätte man die Tat
verhindern können?
SEEHOFER Leider sieht es so aus, dass einer der mutmaßlichen Täter gar nicht erst hätte einreisen dürfen. Wenn wir die Regelung gehabt hätten, für die ich im Frühsommer scharf kritisiert wurde, wäre der tatverdächtige Iraker nicht ins Land gekommen. Er hatte 2016 in Bulgarien bereits einen Asylantrag gestellt und hätte an der Grenze zurückgewiesen werden können. Es war der Höhepunkt der Flüchtlingskrise. Die Frist zur Rücküberstellung wurde verpasst, seine Pässe waren gefälscht. Das sind die Fälle, die uns das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger kosten. Ein Ankerzentrum, wie es sie jetzt gibt, hätte diesen Fall verhindert, weil dieser Mann dort bis zur Abschiebung geblieben wäre. Sachsen hat zwischenzeitlich ein Ankerzentrum.
In NRW schiebt Integrationsminister Joachim Stamp sogar ab, obwohl es das Verwaltungsgericht verbietet.
SEEHOFER Ein Gerichtsurteil darf man kritisieren, aber man muss es respektieren und befolgen. NRW und Bochum hatten zum Zeitpunkt der Abschiebung das Urteil ja nicht.
Die staatlichen Behörden haben ja dafür gesorgt, dass das Gericht möglichst wenig weiß.
SEEHOFER Der Termin ist nicht vom Bundesinnenminister worden. festgelegt
Herr Laschet und Herr Stamp kritisieren, das Bundesinnenministerium hätte früher eine Zusage von Tunesien einholen können, dass Sami A. nicht gefoltert wird. SEEHOFER Dieses Schwarze-Peter-Spiel mache ich nicht mit. Für die operative Umsetzung einer Abschiebung sind die Länder zuständig. Das Auswärtige Amt hat die tunesische Regierung in einer diplomatischen Note darum gebeten, klarzumachen, dass Sami A. nicht gefoltert wird. Ich habe mit dem tunesischen Innenminister dazu telefoniert, er hat eine baldige Antwort versprochen.
Die große Koalition wollte laut Koalitionsvertrag Gräben zuschütten und die Polarisierung zurückdrängen. Dann kam der Asylstreit der Union. War das nicht unnötig?
SEEHOFER Es stimmt, öffentlichen Streit mögen die Leute nicht. Das hätten wir im Frühsommer vermeiden sollen. Ich bin aber inhaltlich weiterhin der Meinung, dass das Ziel richtig war, um genau diese Spaltung zu überwinden. Ich habe die Aufgabe, die Migration zu ordnen und zu steuern. Dafür habe ich 63 Punkte in einem Migrationsplan vorgelegt. Unter anderem den Punkt, in dem ich mich dafür einsetze, dass jene Asylbewerber, die ein Einreiseverbot haben, auch tatsächlich nicht einreisen können. Und dass jene Asylsuchenden, die bereits in einem anderen EU-Staat einen Asylantrag gestellt haben, zurückgewiesen werden.
Dies soll nun über eine europäische Lösung erreicht werden.
SEEHOFER Diese Lösung ist aber schwer zu erreichen. Nehmen wir als Beispiel das Abkommen mit Italien: Für jeden Flüchtling, den wir in ein Land zurückgeben, sollen wir einen anderen aufnehmen. Das ist ein Nullsummenspiel, das schafft zwar Ordnung, aber keine Begrenzung. Es sind mühsame Verhandlungen. Was wir unbedingt brauchen ist eine gesamteuropäische Lösung für das Migrationsproblem.
Und die Union liegt bei 27 Prozent. Warum?
SEEHOFER Wir haben erstmals eine Partei rechts der Union, die sich mittelfristig etablieren könnte, ein gespaltenes Land und einen mangelnden Rückhalt der Volksparteien in der Gesellschaft. Glauben Sie, das hat alles nichts mit der Migrationspolitik zu tun?
Nicht nur.
SEEHOFER Natürlich nicht allein. Aber die Migrationsfrage ist die Mutter aller politischen Probleme in diesem Land. Das sage ich seit drei Jahren. Und das bestätigen viele Umfragen, das erlebe ich aber auch in meinen Veranstaltungen. Viele Menschen verbinden jetzt ihre sozialen Sorgen mit der Migrationsfrage. Wenn wir den Kurswechsel nicht hinbekommen und die Ordnung der Humanität gleichberechtigt zur Seite stellen, werden wir weiter Vertrauen verlieren. Schon jetzt ist in Sachsen kaum mehr eine Regierung möglich ohne AfD oder Linkspartei. Das ist doch kein akzeptabler Zustand. Wir wollen diese Kräfte in keiner Regierung.
Deswegen will Herr Günther Kooperationen mit der Linkspartei ermöglichen.
SEEHOFER Wer?
Daniel Günther, Ministerpräsident Schleswig-Holstein. Ein CDU-Parteifreund.
SEEHOFER Dazu sage ich jetzt lieber nichts.
Wenn die Migrationsfrage die Mutter aller Probleme ist, aber die Kanzlerin bei der Frage nicht Ihren Vorstellungen folgen will, müssten Sie doch eigentlich zurücktreten?
SEEHOFER Sie werden mich nicht in Position gegen jemanden bringen. Ich habe meine Politik skizziert und werde jeden Tag dafür kämpfen, dass der Masterplan Migration zügig umgesetzt wird.
Sie bleiben CSU-Chef nach der Landtagswahl?
SEEHOFER Eines habe ich in den vergangenen Wochen wieder gelernt. Wer in Berlin für die CSU wesentliche Anliegen durchsetzen will, der muss Parteivorsitzender sein. Schauen Sie sich die Obergrenze von 200.000 Zuwanderern an, die wir als CSU viele Jahre gegen den erbitterten Widerstand gefordert haben. Heute steht sie im Koalitionsvertrag und keiner regt sich mehr auf.