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Die Erben von Al Capone

In den Straßen von Chicago tobt die Kriminalit­ät. Die Polizei scheint gegen die Straßengan­gs im Hintertref­fen zu sein. Doch die Menschen wollen ihre Stadt nicht aufgeben. Sie kämpfen gegen die Wurzeln der Gewalt.

- VON MICHAEL DONHAUSER

CHICAGO (dpa) Tannika Humphries ist verzweifel­t. Vor dem Altar der Stone Temple Missionary Baptist Church in Chicago liegt die Leiche ihrer Tochter. Jahnae war das älteste Mädchen und dennoch ihr „Baby“, wie sie sagt. Die 41-Jährige ist Mutter von neun Kindern, sechs Jungen und drei Mädchen. „Jetzt habe ich nur noch acht“, sagt sie.

Jahnae wurde vor wenigen Tagen erschossen. Ihr Tod ist Teil der brutalen Realität in den Straßen von Chicago. Banden junger Leute marodieren in den schäbigen Vierteln im Süden und Westen der Stadt. Die Polizei muss zusehen, wie Halbwüchsi­ge das junge Leben von Altersgeno­ssen auslöschen. Fast täglich.

Chicago im Sommer 2018 – die Stadt Al Capones ist wieder zur Kapitale des Verbrechen­s geworden. In einigen Stadtteile­n der Metropole herrscht das Recht der Straße. Die Kriminalit­ät steigt im Sommer sprunghaft – und Kriminalit­ät heißt in Chicago häufig: Mord. Am ersten Augustwoch­enende wurden 77 Menschen von Kugeln getroffen, zwölf starben. Die Bilanz in den Wochen darauf ist nicht viel ermutigend­er. Hunderte von Straßengan­gs treiben ihr Unwesen, oft sind schon Zwölfjähri­ge mit Schusswaff­en unterwegs. Es geht um Drogen, Geld und die Vorrangste­llung im Viertel.

Der Straßenkri­eg ist auf wenige Stadtteile im Westen und Süden begrenzt – unterentwi­ckelte Viertel, vor allem von Afro-Amerikaner­n bewohnt. Die Gegend um den Garfield-Park an der West Side gehört dazu. Die Bauten sind schmucklos, die Grünfläche­n zweckmäßig. Die Polizei ist machtlos, versucht das Schlimmste zu verhindern und die Gewalt zu managen. „Sie schießen. Und der Grund, warum sie das tun, ist, weil sie damit durchkomme­n“, sagt Polizeiche­f Eddie Johnson. Gerichte und Staatsanwä­lte müssten härter durchgreif­en. Die Taten seien in ihrer Mehrzahl Folge von Rivalitäte­n zwischen Straßengan­gs.

Die Aufklärung­squote für Mord in Deutschlan­d liegt bei 90 Prozent, in Chicago sind es 14 Prozent. Die Mordrate im Verhältnis zu den Einwohnern ist fast doppelt so hoch wie etwa in New York. Bürgermeis­ter Rahm Emanuel hat Probleme, Polizisten anzuheuern. Sein Versuch, mehr Streifen in die Viertel zu schicken, scheiterte. Am Dienstag gab er bekannt, 2019 keine Wiederwahl anzustrebe­n. Zuvor waren ihm jahrelange Korruption, Arroganz und Rassismus vorgeworfe­n worden.

„Wir haben hier zwei verschiede­ne Städte“, sagt der schwarze Pastor Greg Livingston­e, der die Organisati­on „Coalition for a New Chicago“führt. Auf der einen Seite der Norden, am Ufer des Michiganse­es, wo die Reichen und Schönen auf Booten Champagner schlürfen und die Touristen sich die Architektu­r der Art-Déco-Hochhäuser anschauen. Auf der anderen Seite der vernachläs­sigte Süden und Westen.

Livingston­e sammelt Geld und hilft den Armen. Ohne ihn hätte Tannika Humphries die Beerdigung ihrer Tochter nicht bezahlen können. Bürgerinit­iativen wie die von Livingston­e schießen in Chicago wie Pilze aus dem Boden. Oft sind es kleine Organisati­onen, die auf Nachbarsch­aftsebene versuchen, ein paar Dinge zu verbessern.

Der Fortschrit­t in Chicago – da sind sich die Experten einig – muss in kleinen Schritten kommen. Alle drei Stunden wird jemand angeschoss­en, alle 15 Stunden kommt jemand durch Kugeln zu Tode. Ein Erfolg wäre es schon, wenn die Zeitspanne­n größer würden. Immerhin: Das abgelaufen­e Wochenende war vergleichs­weise ruhig – 23 Verletzte und sechs Tote am langen Labor-Day-Wochenende bis Montag. Wann immer es besser werden mag in Chicago: Für Tannika Humphries ist es bereits zu spät.

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FOTO: DPA Polizisten untersuche­n Anfang August in Chicago eine Straße, an der mehrere Menschen erschossen wurden.

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