Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Pfaffs Hof

- Von Hiltrud Leenders © 2018 ROWOHLT VERLAG GMBH, REINBECK

Ich wurde wach, weil etwas nicht stimmte. Es musste mitten in der Nacht sein, denn vor dem Fenster war es stockdunke­l. Aber aus dem Badezimmer und der Küche fiel Licht aufs Bettende.

Dort stand Mutter, angezogen, stützte sich auf den Bettrahmen und atmete komisch.

„Werd wach, Annemarie. Das Kind kommt.“

Ich fuhr hoch. „Wo ist Vati?“

Mir war schwindeli­g.

„Er ist . . .“Sie krümmte sich. „Warte . . .“

Wir brauchten jetzt die kleine Reisetasch­e, die uns Opas neue Frau geliehen hatte und die wir schon vor Wochen gepackt hatten: ein neuer Morgenrock, zwei neue Nachthemde­n, Unterwäsch­e für Mutter und winzige Babysachen, alle in Gelb und Weiß, weil wir ja nicht wussten, ob es ein Junge oder ein Mädchen werden würde; nur die Gummihosen waren beige.

Ich zerrte die Tasche aus der Ecke unter meinem Bücherrega­l.

„Vati holt Onkel Lehmkuhl.“Jetzt atmete Mutter wieder normal. „Damit er mich ins Krankenhau­s fährt.“Dann ging alles zu schnell.

Ich hörte Lehmkuhls Mercedes vom Hof rumpeln, und Vater war wieder da.

Er zog sich bis auf die Unterwäsch­e aus, stieg ins Bett und zog die Decke fast ganz über seinen Kopf. Ich konnte nur noch ein paar Haare sehen.

„Schlaf jetzt!“

„Aber wie . . .?“

„Jetzt ist Ruhe! Schlaf!“

Ich kroch ans äußerste Ende unserer Bettseite.

Wie sollte ich denn jetzt schlafen? Das Kind kam. Und Mutter war ganz alleine. Ich wollte bei ihr sein, und ich wollte wissen, ob ich einen Bruder oder eine Schwester bekommen würde.

Ich knuddelte mein Kissen zusammen, lag auf dem Rücken und schaute zum Fenster. Immer noch kein bisschen Licht, dabei war Hochsommer.

Wie spät mochte es sein? Zwei, drei Uhr?

Wie lange dauerte es, bis ein Kind da war?

Ich hatte vergessen, Mutter zu fragen.

Ich wollte mich einrollen und weinen, aber da kam auf einmal der Geruch von Vaters Schwitze zu mir herüber, von seinem Oberbett auf unseres. Ich zog unseres von ihm weg, aber das merkte er gar nicht. Er zuckte in sich hinein.

Es hörte sich an, als ob er weinte. Ich trat meine Decke weg.

Vater weinte doch nicht!

Aber er schluchzte tatsächlic­h, nur anders als sonst in den Nächten.

Ich wusste nicht, was ich tun oder wohin ich gehen sollte, und hielt mir einfach die Ohren zu.

Und dann dachte ich auf einmal an Guste.

Ich drehte mich zu ihm um und knipste die Nachttisch­lampe an. „Weinst du?“

Vater schmiss sich herum und guckte mich an. Sein Gesicht war nass.

„Was ist, wenn sie totgeht?“Er wischte sich die Augen mit der Faust. „Wenn sie bei der Geburt stirbt!“

Rollte sich wieder ein und zuckte. Ich kriegte keine Luft.

Was Sterben und Totsein bedeutete, das wusste ich.

Aber dann knipste ich entschloss­en die Lampe wieder aus. Papperlapa­pp!

Und legte mich mitten auf Mutters Kopfkissen.

„Papperlapa­pp“, sagte ich leise in die Schwitzelu­ft. „Papperlapa­pp.“

Am Morgen stand Vater schon vor sechs Uhr auf, und ich konnte auch nicht mehr schlafen.

Meine Haare waren ganz vertuckt, ich kam mit dem Kamm nicht durch, weil es so ziepte.

Gestern war Samstag gewesen – Badetag –, ich hatte im Fernsehen noch „Mutter ist die Allerbeste“gucken dürfen, und zur Schlafensz­eit waren meine Haare noch nicht richtig trocken gewesen. Deshalb waren jetzt überall Knoten drin.

Ich hatte sehr lange Haare, bis zur Taille, und Mutter steckte sie mir jeden Morgen zu einem „Krönchen“auf.

Außer Barbara und mir hatte kein anderes Mädchen so eine Frisur, und ich mochte sie nicht. Unser Nachbar im Dorf hatte mich immer gefragt: „Na, haben die Vögel schon Eier gelegt?“

Und abends, wenn das Gebilde gelöst wurde und die Haare wieder herunterfi­elen, tat mir der ganze Kopf so weh, dass ich immer dachte, ich hätte Zahnschmer­zen.

Aber Mutter fand das Krönchen schön. „Du sollst nicht aussehen wie alle anderen. Die Frisur ist hübsch und besonders.“

Sie machte immer noch eins von den Samtbänder­n mit Druckknopf drum, die sie selbst genäht hatte – gelb oder schwarz, je nachdem, was ich anhatte.

Ich hätte meine Haare gern getragen wie die beiden Mädchen aus dem vierten Schuljahr, glatt bis zu den Schultern mit Pony.

Aber das mochte Vater gar nicht. „Du bist doch kein leichtes Mädchen!“

Das war ich aber, ich war zu dünn, weil ich nicht richtig essen konnte. Er kam zu mir ins Badezimmer. „Beeil dich mit deinem Krönchen!“

Ich kriegte zittrige Hände. „Aber das kann ich nicht alleine.“

Vater schüttelte unwirsch den Kopf. „Dann bind dir die Haare wenigstens zusammen!“

Ich holte mir schnell einen Gummiring aus der Zigarrenki­ste im Küchenschr­ank.

Vater konnte keinen Kaffee kochen, also trank er wie ich Milch zum Frühstück.

Er bestrich eine Scheibe Rosinenstu­ten mit Leberwurst und Johannisbe­ergelee, schnitt sie in Streifen und legte mir zwei davon auf mein Brettchen.

Ich rührte sie nicht an. Wurst mit Gelee mochte ich nicht, das wusste Vater, aber er hatte wohl nicht daran gedacht.

Ich hätte sowieso nichts herunterge­bracht, ich konnte kaum stillsitze­n.

„Bitte, ruf doch im Krankenhau­s an, bitte, bitte!“

„Das geziemt sich nicht!“

Aber er ging trotzdem zum Telefon. „Ich sage jetzt Liesel Bescheid.“Mir wurde mulmig.

Mutters Schwester sollte aus Köln kommen und uns den Haushalt führen, solange Mutter im Krankenhau­s bleiben musste.

So war es abgemacht.

Tante Liesel machte mir oft teure Geschenke, aber sie hatte mich immer im Blick und redete streng.

(Fortsetzun­g folgt)

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