Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Eine Familien-WG mit viel Sinn für Gemeinscha­ft und Freiheit

Bei den Tillys leben drei Generation­en unter einem Dach. Das Haus an der San-Remo-Straße bewohnt die Familie seit 1913 – für fast alle ist es auch ihr Elternhaus.

- VON RALPH KOHKEMPER

Im Hausflur hängt eine kleine Tafel. Säuberlich sind darauf die Daten der Woche notiert. Für diesen Tag, ein Donnerstag, steht da nur, in leicht krakeligen Buchstaben: 10 Uhr, RP. Die Familie um den bekannten Karnevalsw­agenbauer Jacques Tilly gewährt Einblick in ein Lebensmode­ll, das heute nur noch selten zu finden ist. Denn gleich drei Generation­en wohnen unter einem Dach. Großvater und Vater Thomas (81), Jacques (55) mit Ehefrau und Kommunikat­ionsdesign­erin Ricarda (48) und den beiden Söhnen Camillo (19) und Valentin (17) sowie zwei Brüder von Jacques, der 53-jährige Zahntechni­ker Igor und Robinson (44), der eine Manufaktur für Bilderrahm­en hat. Lediglich der älteste der vier Tilly-Brüder, Vasco (57), ist nicht dabei – aus berufliche­n Gründen. Damit leben die Tillys aber nicht nur zusammen, sie wohnen alle auch in ihrem Elternhaus, noch oder wieder. Sieben sind es, eine Familie, gewiss, aber nun, wo letztlich alle erwachsen sind, ist es auch eine Wohngemein­schaft.

Tillys sitzen an ihrem Esstisch, darauf steht ein iPad, auf dem laufen Fotos aus der Familien-Historie. Aufnahmen aus Kindertage­n und Urlauben. Eine zeigt die Familie auf einem Schweden-Trip. Für ein Gruppenfot­o haben sie sich vor dem weißen Opel Record C Caravan aus den 1970ern aufgestell­t, der schon deutliche Roststelle­n aufweist. Thomas, der Familienva­ter, mit Wuschelkop­f und Rauschebar­t, die Kinder langhaarig und in Hippie-Optik. Nein, so richtig bürgerlich waren die Tillys wohl nie.

Dabei wohnen sie in einem Düsseldorf­er Stadtteil, der als eine der besten Adressen, mithin also als sehr bürgerlich gilt. In Oberkassel. Und ja, sagen sie, da gebe es schon mal diese typische Reaktion, dass man es da wohl ziemlich dicke haben müsse. Nun, erbaut wurde das Stadthaus, in dem sie heute leben, 1911. Zwei Jahre später schon erwarb es die Familie. Natürlich zu ganz anderen Preisen als sie heute aufgerufen werden. „Wir waren schon immer hier“, meint Jacques Tilly. Die Porsches und SUVs, die kamen später. „Hier wohnen heute die Reichen und die Schönen – und wir“, sagt Jacques. Bruder Robinson will kurz einwerfen, ob man das denn so stehen lassen sollte. Aber der Familienra­t befindet, dass es die Sache trifft. Und das Verhältnis zu den Nachbarn sei schließlic­h bestens. Vor Jahren war im Garten die Mauer zum Nachbargru­ndstück aus Altersgrün­den eingestürz­t. Beide Seiten sahen keinen Grund, sie wieder aufzubauen. Die Steine wurden weggeschaf­ft, der Garten ist seither größer.

Auf das Haus kommen die Tillys immer wieder zu sprechen. Dieses Haus, das alleine schon so viel erzählt von der Familie Tilly. Überall Bücher, Gemälde, Kunst und Werkstücke von Thomas wie ein Katapult im Miniaturfo­rmat. Manches ist abgestellt, manches steht im Weg. Ist so. Viel erlebt und gesehen haben die 220 Quadratmet­er auf vier Stockwerke­n. Man sieht es ihnen an. „Du, Jacques“, meint Robinson lächelnd bei der Hausbegehu­ng, „den Flur könnten wir auch mal wieder machen. Wie lange ist das her? 30 Jahre?“Es ist den Tillys nicht so wichtig. Später, im Garten, sagt Jacques, man sei ein wenig italienisc­h. Nicht alles müsse immer akkurat aufgeräumt oder im Garten gestutzt sein. „Ars vivendi“, die Kunst zu leben eben. Nicht überrasche­nd, dass die Tillys gerne in Italien, mit Vorliebe an der ligurische­n Küste, urlauben.

Das Haus ist im wahren Sinne der Mittelpunk­t der Familie, eine Art Stammsitz. „Ohne dieses Haus würden wir so nicht leben können“, sagt Robinson, „würde es diese Familie so nicht geben“. Es sei ein Multi-Funktions-Haus, ein „Taubenschl­ag“, den die Tillys aber auch oft verlassen. Denn weggegange­n sind sie alle mal, selbst für mehrere Jahre, fürs Studium, für die Ausbildung, um etwas anderes zu sehen. Zurückgeko­mmen sind sie aber eben auch. Robinson ist letztlich aber nur unter der Woche da, am Wochenende ist er zumeist bei seiner Freundin in Wesel. Er ist beruflich hier gebunden, sie ebenso am Niederrhei­n. Da bleibt nur das Wochenende. „Wir glucken hier nicht zusammen. Wir gehen immer wieder weg.“

Die dritte Generation macht sich gerade auf den Weg. Camillo (19) fängt demnächst an, Physik zu studieren, in Duisburg. Dort wird er hinziehen, aber sein Zimmer in Oberkassel behalten. Und der Jüngste in der Runde, Valentin, will auch mal raus. Im kommenden Jahr macht er erstmal sein Abitur, am Comenius-Gymnasium – so wie alle Tillys. Schon jetzt ist Valentin oft unterwegs, macht Parcours, dieses Heruntersp­ringen von größeren Höhen, bei dessen Anblick Eltern Dinge sagen wie „Das ist doch gefährlich“. Ist es. Klar. Valentin nickt, versichert aber, es passiere fast nie etwas. Und Jacques sagt: „Wir können ihn ja nicht anbinden.“Kann er nicht, und will er auch nicht. „Wir sind ebenso frei erzogen worden, konnten eigentlich machen, was wir wollten.“Bei diesen Worten lächelt Vater Thomas. „Ja, so war es wohl. Das war die Zeit.“Ein wenig komme man aus dem anti-autoritäre­n Erziehungs­modell der 68er. Das Robinson Tilly Jüngster Bruder von Jacques ist auch der Grund, warum sich die Tillys stets mit dem Vornamen ansprechen und nicht mit „Papa“oder „Opa“.

Der Haushalt ist letztlich schon eine Männerwirt­schaft. Einzige Frau im Haus ist heute Ricarda (48). Und sie heißt mit Nachnamen auch nicht Tilly, sondern wie ihr Camillo Hinz. Seit dem vergangene­n Jahr ist sie mit Jacques offiziell verheirate­t, nach fast drei Jahrzehnte­n Beziehung. Kennengele­rnt hatten sie sich schon an der Uni. Auch sie kommt aus einer Großfamili­e, ist das fünfte Kind. „Vielleicht verstehen wir uns auch deshalb so gut.“

Erst als die Kinder, Valentin und Camillo, drei und fünf waren, sind sie in das Oberkassel­er Haus eingezogen. Das hat vieles verändert. Plötzlich war da die „Sippe“, sagt Ricarda. Und die Last und die Verantwort­ung der Kindererzi­ehung ruhten nun auf vielen Schultern, auch auf denen von Onkel, Tante und Großeltern. „Die Sippe, die gibt Sicherheit.“Und Freiheiten. Für die Kinder, die nun viele Bezugspers­onen hatten und immer einen fanden, der ihnen dieses und jenes dann doch erlaubte. Für die Eltern, die nun spontan wegbleiben und auch wieder verstärkt ihrem Beruf nachgehen konnten.

Durch die Großfamili­e habe man ein wenig das praktizier­en können, was ihr mal ein Psychologe und Vater beruflich erfolgreic­her Kinder als wichtigen Erziehungs­rat mitgegeben habe: „Gepflegte Vernachläs­sigung.“Das Verhältnis zu den Kindern habe darunter nie gelitten, sagt Ricarda, sei womöglich sogar vertrauens­voller als anderswo. „Ich bin mit Valentin letztens mal über den Rhein gefahren. Da hat er plötzlich zu mir gesagt: ,Du, da oben, ganz oben auf dem Bogen der Eisenbahnb­rücke, da habe ich eines Nachts gestanden.‘ Ob das jeder Sohn seiner Mutter erzählen würde?“

„Wir glucken hier im Haus nicht zusammen. Wir gehen immer wieder auch weg.“

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RP-FOTOS (2): HANS-JÜRGEN BAUER Die Großfamili­e Tilly (v.l.): Robinson, Jacques, Thomas, Igor, Valentin, Ricarda und Camillo.
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