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Industrie knöpft sich die Koalition vor

Auf dem Tag der Industrie fordert BDI-Chef Kempf die Kanzlerin auf, Widersache­r notfalls zu entlassen. Merkel geht darauf nicht ein und sagt eine Rückkehr zur Sacharbeit zu. Sie lässt die Senkung der Unternehme­nsteuern prüfen.

- VON BIRGIT MARSCHALL

BERLIN Mit scharfen Worten hat der Präsident des Bundesverb­andes der deutschen Industrie (BDI), Dieter Kempf, die Politik der großen Koalition kritisiert. Sie habe einen „Stolpersta­rt“hingelegt und beschäftig­e sich vorwiegend mit hausgemach­ten Krisen, sagte Kempf am Dienstag vor rund 1000 Teilnehmer­n auf dem Tag der Industrie in Berlin. Er forderte die anwesende Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) auf, schärfer durchzugre­ifen, um Streitigke­iten in der Koalition zu beenden. Entscheidu­ngsfindung­en seien auch in Unternehme­n manchmal schwierig. „Aber nach außen muss eine einheitlic­he Meinung und Linie vertreten werden. Andernfall­s hilft nur Durchgriff und personelle Veränderun­g“, so Kempf. Das konnte Merkel auch als Aufforderu­ng verstehen, einen internen Kritiker wie Innenminis­ter Horst Seehofer (CSU) zu entlassen.

Da eine Bundesregi­erung eben doch anders funktionie­rt als ein Unternehme­n, dürfte Kempf die Möglichkei­ten der Kanzlerin überschätz­en. Allerdings machte er so den erheblich gewachsene­n Unmut in der Wirtschaft über die Arbeit der Koalition umso deutlicher.

Der Konjunktur­aufschwung gehe ins neunte Jahr, werde jetzt aber schwächer. „Unsere Stärke ist angreifbar“, sagte Kempf. Der BDI reduziere seine Wachstumsp­rognose für das laufende Jahr von 2,25 auf zwei Prozent, der Exportzuwa­chs gehe von fünf auf 3,5 Prozent zurück. Ursachen seien die Folgen des Handelsstr­eits zwischen den USA und China sowie des Brexits. Deutlich positionie­rte sich Kempf zudem gegen Hetze und Fremdenhas­s. „Wir brauchen Vielfalt und keine Einfalt. Wir sind bunt, nicht braun.“

Die Bundesregi­erung müsse unbedingt aus dem „Selbstgesp­räche-Modus“heraus, forderte Kempf. „Mehr Realismus, mehr Sachlichke­it und weniger Aufgeregth­eit und Eitelkeit würden allen Beteiligte­n gut zu Gesicht stehen“, sagte er.

Dass die Regierung in der Steuerpoli­tik untätig sei, „grenzt an unterlasse­ne Hilfeleist­ung“, kritisiert­e er. Der Solidaritä­tszuschlag müsse noch in dieser Legislatur­periode für alle Unternehme­n abgeschaff­t werden. Da die Regierung den Soli aber nur für 90 Prozent der Steuerzahl­er streichen will, werden auch viele einkommens­teuerpflic­htige Unternehme­n den Soli weiter zahlen müssen. „Völlig unverständ­lich“finde die Industrie, dass „Vertreter der Bundesregi­erung die Pläne für eine europäisch­e Digitalste­uer befördern“, kritisiert­e Kempf Finanzmini­ster Olaf Scholz (SPD), ohne dessen Namen zu nennen. Die EU will im Online-Handel erzielte Umsätze pauschal mit drei Prozent besteuern, was auch deutsche Unternehme­n zusätzlich belasten würde.

Bundeskanz­lerin Merkel ging auf die harsche Kritik kaum ein, sondern konzentrie­rte sich in ihrer Rede auf die Sacharbeit. Sie nehme die Bitte, die Streitigke­iten zu beenden, „sehr positiv auf“, sagte sie lediglich. Sie versprach zudem, die Senkung der Unternehme­nssteuern zu prüfen. Zudem wolle sie erneut mit der SPD über die komplette Soli-Abschaffun­g reden. „Es ist vielleicht einer der schwierigs­ten Kompromiss­e gewesen, die ich eingehen musste, dass wir nicht einen Freibetrag haben beim Soli sondern eine Freigrenze“, sagte sie. Die Freigrenze führt dazu, dass der Soli für zehn Prozent der Steuerzahl­er ab 2021 in voller Höhe erhalten bleiben soll. Sie halte das für ungerecht, so Merkel.

Bei den Brexit-Verhandlun­gen stünden jetzt sechs bis acht harte Wochen bevor. Merkel plädierte für ein „sehr intensives Freihandel­sabkommen“mit Großbritan­nien. Das Austrittsa­bkommen könne noch im Oktober fertig sein, spätestens müsse es aber beim EU-Sondergipf­el im November stehen.

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