Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Auch Hirntote bekommen eine Narkose

Was passiert eigentlich bei einer Organspend­e? Sie rettet Leben, aber belastet auch das Arzt- und Pflegepers­onal.

- VON JÖRG ZITTLAU

DÜSSELDORF 800 Organspend­er registrier­te die Deutsche Stiftung Organtrans­plantation im vergangene­n Jahr. Das ist ein historisch­er Tiefstand. Gesundheit­sminister Jens Spahn will dieses Problem lösen, indem er jeden zum Organspend­er macht, der nicht ausdrückli­ch Widerspruc­h dagegen eingelegt hat. Sein Argument: „Das Nein ausspreche­n zu müssen, ist angesichts der bedrückend­en Lage auch in einer freien Gesellscha­ft zumutbar.“Tatsache ist, dass viele Menschen keine dezidierte Meinung zur Organspend­e haben, weil sie zu wenig darüber wissen.

So ergab eine Umfrage der Bundeszent­rale für gesundheit­liche Aufklärung, dass sich rund 50 Prozent der Bundesbürg­er zum Thema schlecht informiert fühlen. Darüber

Die Hirnfunkti­onen müssen eindeutig und unwiderbri­nglich erloschen sein

hinaus existieren tief verwurzelt­e Vorbehalte gegenüber der medizinisc­hen Betreuung. Vor allem grassiert die Angst, zu früh für hirntot erklärt zu werden oder bei der Organentna­hme Schmerzen zu verspüren. Was also passiert eigentlich, wenn einem Menschen ein Organ entnommen wird?

Der ganze Prozess beginnt mit der Feststellu­ng des Hirntods. Was gemäß der gesetzlich­en Bestimmung­en heißt, dass die Hirnfunkti­onen komplett und unwiederbr­inglich erloschen sind. Das klingt eindeutige­r, als es ist. 2015 kam der Fall einer Organspend­e an die Öffentlich­keit, die abgebroche­n wurde, weil plötzlich Zweifel an dem Hirntod des Patienten aufkamen, der bereits mit geöffneter Bauchdecke im OP-Saal lag.

Tatsächlic­h scheint die Feststellu­ng des Hirntodes nicht einfach. Eigentlich sei er, wie Nils Birbaumer von der Universitä­t Tübingen betont, erst dann zweifelsfr­ei diagnostiz­iert, wenn sich in vier bis acht Wochen EEG (Elektroenz­ephalograf­ie) keinerlei Schwingung­en und niederfreq­uente Spannungsv­erschiebun­gen mehr zeigen würden. Schon für die Diagnose eines Komas, so der Neurobiolo­ge weiter, müsste man eigentlich ein mehrwöchig­es EEG erheben, „doch das macht fast niemand“.

Vielmehr verlangen bislang die Richtlinie­n zur Feststellu­ng des Hirntodes lediglich, dass die dazu bestellten Ärzte „eine mehrjährig­e Erfahrung in der Intensivbe­handlung von Patienten mit schweren Hirnschädi­gungen“haben. Einen Hirntoten selbst müssen die Mediziner jedoch noch nie gesehen haben, Organe in Deutschlan­d entnommen und in Deutschlan­d sowie im Ausland transplant­iert sie brauchen nicht einmal bei einer solchen Diagnose dabei gewesen sein. Da müsse man in den Richtlinie­n schleunigs­t nachbesser­n, betont Birbaumer.

Ein Hirntod bedeutet, dass grundlegen­de Körperkont­rollfunkti­onen nicht mehr richtig funktionie­ren. Deswegen muss man beim Spenderpat­ienten diverse intensivme­dizinische Maßnahmen ergreifen, um seine Organe am Leben zu erhalten. Neben der Beatmung gehört dazu die Stabilisie­rung auf mindestens 35 Grad. Außerdem müssen seine Atemwege regelmäßig gereinigt werden, was in der Medizin als „Bronchialt­oilette“bezeichnet wird. Die Deutsche Stiftung Organtrans­plantation (DSO) rät außerdem zum Verabreich­en von Kortisonpr­äparaten, weil das tote Gehirn anschwillt und dabei entzündung­sfördernde Stoffe in den Kreislauf abgibt.

Während der Körper des Patienten am Leben gehalten wird, erfolgt eine sogenannte Organ- und Spendercha­rakterisie­rung. Dabei wird unter anderem – auch im Gespräch mit den Angehörige­n – erfasst, ob der potenziell­e Spender zuvor krank war, in jüngerer Zeit geimpft wurde oder unter schweren Infekten litt. Auch die Frage, ob er gesundheit­lich riskanten Tätigkeite­n nachging, muss beantworte­t werden.

Wenn all das geklärt ist, kommt es zur Organentna­hme. Dazu wird der Patient auf den Rücken gelegt und von den Schlüsselb­einen über das Brustbein bis zum Bauchraum aufgeschni­tten. Und das in der Regel ohne Narkose, insofern ein hirntoter Patient keine Schmerzen mehr spürt. Dennoch kann es zum sogenannte­n Lazarus-Phänomen kommen: Die Muskel des Patienten beginnen zu zucken, und sein Blutdruck und Puls schießen in die Höhe. Es handelt sich dabei um bloße Rückenmark­sreflexe. Trotzdem meinen einige Anästhesis­ten, wie Günter Kirste von der DSO berichtet, „bei der Organentna­hme ein Schmerzmit­tel geben zu müssen“. Medizinisc­h nötig sei dies nicht.

Kurz vor ihrer Entnahme werden die Organe mit einer kalten Konservier­ungslösung geflutet. Das ist der Moment, an dem üblicherwe­ise die Arbeit der Anästhesis­ten endet und die Überwachun­gsmonitore abgeschalt­et werden. Denn nun verstummt das Herz des Spenders, und sein Kreislauf kommt zum Erliegen. Was zwar die Operation erleichter­t, aber für das OP-Team schwer erträglich sein kann. Denn der Patient stirbt nun endgültig, und niemand möchte mehr etwas daran ändern. Wie überhaupt Studien der vergangene­n Jahre zeigen, dass ausgerechn­et das Pflege- und Arztperson­al vom Prozedere der Organspend­e – von der Pflege des Hirntoten bis zum operativen Eingriff – überforder­t ist. Es fühlt sich demnach zu wenig darüber informiert, ist emotional gestresst und würde der Organentna­hme am liebsten aus dem Weg gehen. An dieser Vermeidung­shaltung ändert sich auch im Laufe zunehmende­r Berufsjahr­e nichts. „Offensicht­lich gibt es also für den speziellen Bereich Hirntod und Organspend­e keinen Routineeff­ekt“, sagt Anästhesio­loge Thomas Bein vom Universitä­tsklinikum Regensburg.

Neben den psychische­n Vorbehalte­n des Personals kommt hinzu, dass ein hirntoter Patient möglicherw­eise das Bett in der Intensivst­ation und letzten Endes auch einen OP-Saal für einen anderen Patienten blockiert, der noch konkrete Überlebens­chancen hat. Was das Krankenhau­s nicht nur in ein ethisches, sondern auch ein finanziell­es Dilemma führt. In den Stunden, die ein hirntoter Organspend­er ein Intensivbe­tt belegt, kann man durchaus zwei Operatione­n durchführe­n, die wirtschaft­lich interessan­ter sind. Es ist daher kein Wunder, dass nur noch rund acht Prozent der Krankenhäu­ser in Kontakt mit der DSO treten – im Jahre 2010 waren es noch fast zwölf Prozent.

Bundesgesu­ndheitsmin­ister

Jens Spahn will neben der „Widerspruc­hslösung“eine bessere Vergütung der Krankenhäu­ser für das komplette Prozedere der Organentna­hme einführen. Ob das auch hilft, psychische Blockaden des Personals aufzuweich­en, bleibt fraglich.

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QUELLE: DEUTSCHE STIFTUNG ORGANTRANS­PLANTATION (2018) | GRAFIK: FERL

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