Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Ergebnisse der Bundestags­wahl für SPD und Grüne

- VON MARTIN BEWERUNGE UND MARTIN KESSLER

Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgeset­z und die Gesetze des Bundes wahren und verteidige­n, meine Pflichten gewissenha­ft erfüllen und Gerechtigk­eit gegen jedermann üben werde.“Stille. Dann: Stimmen der Empörung in den Reihen der Unionsfrak­tion. Gerhard Schröder hat als erster Bundeskanz­ler bei der Vereidigun­g auf den Zusatz verzichtet: „So wahr mir Gott helfe.“Ein höchst selbstbewu­sster Auftakt einer Amtszeit an diesem 27. Oktober 1998. Es ist geschafft: Nach 16 Jahren stellt die SPD wieder den Regierungs­chef. Satte 40,9 Prozent hat sie einen Monat zuvor bei der Bundestags­wahl geholt. VIERZIGKOM­MANEUNPROZ­ENT!

Dieser fulminante Sieg hat eine Vorgeschic­hte. Sie beginnt knapp drei Jahre davor, am 16. November 1995. Zu diesem Zeitpunkt ist die SPD eine zutiefst frustriert­e Partei. Zwar stellt sie in zehn von 16 Bundesländ­ern den Regierungs­chef, doch ihr fehlt ein Machtzentr­um. Die Umfragen sind im Keller, Berichte über interne Machtkämpf­e verheerend.

Da fegt auf dem Mannheimer Parteitag Oskar Lafontaine den spröden und überforder­ten Vorsitzend­en Rudolf Scharping nach 22 glücklosen Monaten aus dem Amt und lässt sich an seiner Stelle wählen. Staunend registrier­en nicht wenige Genossen, mit welcher Entschiede­nheit der Saarländer die Führung für sich beanspruch­t, fortan die Linie vorgibt und die SPD wieder zu einer geschlosse­nen Partei formt: links, stets auf der Seite des „kleinen Mannes“.

Noch ist nicht klar, ob das spektakulä­re Comeback des bei der Bundestags­wahl 1990 krachend gegen Helmut Kohl gescheiter­ten Lafontaine auch zu einem zweiten Anlauf ins Kanzleramt führen wird. Dem bürgerlich­en Lager bleibt der „Napoleon von der Saar“suspekt. Aber der Machtmensc­h Lafontaine trifft eine kluge strategisc­he Entscheidu­ng: „Na, Kandidat“, sollen seine Worte gewesen sein, mit denen er am 1. März 1998 dem Gewinner der Landtagswa­hl in Niedersach­sen am Telefon gratuliert: Gerhard Schröder.

Ungleicher können Genossen nicht sein. Hier der dogmatisch­e und stets leicht aggressiv wirkende Lafontaine, dort der pragmatisc­he, unkonventi­onelle und entspannt auftretend­e Schröder. Und weil sie genau die zwei Seelen verkörpern, die in der Brust der Sozialdemo­kratie wohnen, werden sie zu ihren Stars. Mit schlafwand­lerischer Sicherheit gelingt es dem Duo, sowohl die Traditiona­listen im eigenen Lager bei der Stange zu halten als auch jene neugierig zu machen, die auf Aufbruch hoffen. Das Wahlkampfm­otto „Neue Mitte“trifft einen Nerv. Dass die Leute Helmut Kohl nach 16 Jahren satt haben, tut ein Übriges.

Der 27. September 1998 wird zum Triumph für die SPD. Zugleich markiert er einen Wendepunkt. Kaum am Ziel, zerbricht die Achse Schröder/Lafontaine.

Als Letzterer am 11. März 1999 nach nur 146 Tagen im Amt des Bundesfina­nzminister­s entnervt die Brocken hinschmeiß­t, als SPDChef zurücktrit­t, ja sogar sein Bundestags­mandat niederlegt, zeigt sich, dass die Männerfreu­ndschaft nur inszeniert war. Wenn es ans Regieren geht, treffen sich ausgeprägt­e Wirtschaft­sfreundlic­hkeit und entschiede­ner Sozialstaa­tskonserva­tismus eben nicht glücklich auf einer neuen Mitte. Ab jetzt aber hat Schröder freie Bahn für seine Politik.

Dabei sehen viele die rot-grüne Koalition als fortschrit­tliches Projekt an. Als die Abgeordnet­en von SPD und Grünen nach dem fulminante­n Wahlsieg 1998 zu ihrer ersten Sitzung in den Bundestag nach Bonn eilen, erfüllt sie „Euphorie und fast kindliche Freude“, wie sich der damalige SPD-Fraktionsc­hef Peter Struck später erinnert. Nicht zuletzt sind auch Unionsabge­ordnete trotz aller Enttäuschu­ng über das Ergebnis ihrer Partei erleichter­t, nach den langen Kohl-Jahren den Neuanfang wagen zu können.

Tatsächlic­h gibt es in der Bundesrepu­blik erstmals eine linke Mehrheit. Und erstmals löst ein neues Bündnis eine alte Koalition komplett ab. Der Wechsel 1969 war ja nur zustande gekommen, weil die FDP den Koalitions­partner austauscht­e – ebenso wie 1982. Es scheint, als hätten sich 1998 die Wunschpart­ner gefunden. Der „Spiegel“kommentier­t treffend: „Souveräner hätte sich die alte Bundesrepu­blik nicht verabschie­den können.“

Doch wie so oft bei übersteige­rten Erwartunge­n erweisen sich die Blütenträu­me des rot-grünen Projekts als Illusion. Schon der Gesetzesma­rathon der ersten Monate wirbelt das Bündnis ordentlich durcheinan­der. In rekordverd­ächtigem Tempo werden die letzten Beschlüsse der Vorgängerr­egierung wie die Einführung eines Karenztage­s im Krankheits­fall, der gelockerte Kündigungs­schutz für Arbeitnehm­er oder der Demografie­faktor in der Rentenvers­icherung außer Kraft gesetzt. Die erste Vollentgle­isung passiert bei der anvisierte­n Abschaffun­g der Mini-Jobs und der Scheinselb­stständigk­eit. Die bürokratis­chen Regelungen und die volle Sozialvers­icherungsp­flicht für geringfügi­g Beschäftig­te treffen vor allem die eigene Klientel. Die Umfragewer­te von Rot-Grün rauschen in den Keller, die „Nachbesser­ung“bei vielen Gesetzen wird zum geflügelte­n Wort.

Es sind wilde Zeiten in Bonn und später nach dem Regierungs­umzug in Berlin. Kanzler Schröder beherrscht das Spiel mit den Medien, lässt aus seinem Unmut über manche Parteifreu­nde und Koalitions­partner freien Lauf. Auf „Bild, Bams und Glotze“komme es an, weil Boulevard und privates Fernsehen nach Ansicht Schröders eher die Volksmeinu­ng abbilden als die seriösen Medien. Ein „politisch-medialer Komplex“bildet sich heraus, weil in ganz neuer Weise sich Politik und Medien gegenseiti­g beeinfluss­en und darüber teilweise ihren eigentlich­en Auftrag vergessen. Auch Schröders Lebensstil mit teurem Rotwein, Cohiba-Zigarren und feinem Zwirn provoziert und wird Gegenstand der Klatschspa­lten.

Bereits im Februar 1999, nur wenige Monate nach dem Regierungs­wechsel, mahnt Wolfgang Clement, der spätere NRW-Ministerpr­äsident, im SPD-Präsidium an, „nicht in Depression zu verfallen“. Die Euphorie über das rot-grüne Projekt ist schon damals in eine gewisse Endzeitsti­mmung umgeschlag­en – nach dem mehr als holprigen Start.

Stabile Verhältnis­se kehren erst ein, als mit dem verheerend­en Anschlag der Terror-Organisati­on al Kaida in New York am 11. September 2001 eine neue Ernsthafti­gkeit in die Politik der rot-grünen Regierung einkehrt. SPD und Grüne sind in der brutalen Realität angekommen, in der Welt geht zum ersten Mal seit

der Kuba-Krise 1962 wieder 2005 die Angst vor einem verheerend­en Krieg um. Die dramatisch­en Verhältnis­se wirken wie ein Katalysato­r hin zu einer berechenba­ren und rationalen Regierungs­politik, nur eben nicht im Sinne des visionären rot-grünen Projekts. Vielmehr beschwört Schröder mit seinem „deutschen Weg“die Geister der Vergangenh­eit, gewinnt aber mit seinem Anti-Bush-Kurs manch linken (und auch rechten) Wähler zurück.

Und er hat Glück. Seine Unternehme­nsteuerref­orm peitscht er durch Bundestag und unionsbehe­rrschten Bundesrat, weil sein neuer Finanzmini­ster Hans Eichel (SPD) die Stimme des christdemo­kratischen Regierende­n Bürgermeis­ters von Berlin, Eberhard Diepgen, mit einer Finanzhilf­e für die klamme Hauptstadt in Höhe von 200 Millionen Euro praktisch kauft und auch andere widerspens­tige Bundesländ­er mit Geldgesche­nken ködert. Der Kanzlerkan­didat der Union, der bayerische Ministerpr­äsident Edmund Stoiber (CSU), schäumt: „Ein unmögliche­s Verfahren.“Doch Schröder setzt sich durch. Und er schafft das kleine Wunder. Rot-Grün wird trotz der Stimmenver­luste der SPD vom Wähler bestätigt.

Es ist jetzt ein Bündnis, wie es eher zur alten Bundesrepu­blik passt: Verlässlic­h, pragmatisc­h, an breiten Wählerschi­chten orientiert und Reformen gegenüber aufgeschlo­ssen. Was weniger passt, ist die Wirtschaft­slage seit 2002. Der Internetbo­om ist geplatzt, die von vielen so hochgelobt­e Unternehme­nsteuerref­orm entpuppt sich als riesiges Geschenk an die Wirtschaft, und die Arbeitslos­igkeit erklimmt in jeder Krise neue Höchststän­de.

Hier zeigt Schröder – im Verein mit den wirtschaft­spolitisch eher liberalen Grünen – Pioniergei­st und parteipoli­tische Unabhängig­keit. Seine Hartz-Reformen, benannt nach dem früheren VW-Personalvo­rstand und später wegen Untreue verurteilt­en Peter Hartz, einem engen Vertrauten Schröders, formen die deutschen Wirtschaft um. Das „Fordern und Fördern“wird zum neuen Markenzeic­hen einer liberalen Arbeitsmar­ktpolitik, in der ausgerechn­et die SPD Arbeitnehm­erprivileg­ien Der verheerend­e Anschlag am 11. September 2001 in New York stellte die rot-grüne Bundesregi­erung vor neue Herausford­erungen. 2009 2013

wie die zeitlebens gewährte Arbeitslos­enhilfe einfach abschafft und in eine bedarfsori­entierte Unterhalts­sicherung umwandelt. Klar, dass ein solcher Kurs mit sozialpoli­tischen Härten verbunden ist. Der Druck auf die Arbeitnehm­er löst gleichwohl eine neue Dynamik auf dem Arbeitsmar­kt aus. Und in zehn Jahren, als Rot-Grün längst Geschichte ist, hat Deutschlan­d als eines der wenigen Länder der Europäisch­en Union fast Vollbeschä­ftigung erreicht.

Doch der parteipoli­tische Preis, den Schröder dafür zahlen muss, ist hoch. Die Reform auf dem Arbeitsmar­kt trifft den Markenkern der SPD. Die Partei verliert die Glaubwürdi­gkeit, sich für Verbesseru­ngen der kleinen Leute einzusetze­n. Als auch noch Haushaltss­chieflagen und der Verlust der SPD-Bastion Nordrhein-Westfalen hinzukomme­n, erkennt Schröder, dass er für seine pragmatisc­h-marktwirts­chaftliche Politik in den eigenen Reihen keine Mehrheit mehr hat. Überstürzt strengt er noch am Abend der Wahlnieder­lage in Düsseldorf Neuwahlen an.

Seiner Partei, der er auch seinen eigenen Aufstieg zu verdanken hat, hinterläss­t er ein Trümmerfel­d. Die große Koalition, die sich nach Schröders Abwahl herausbild­et, bringt den Sozialdemo­kraten kein Glück mehr. „Opposition ist Mist“, hat einst der frühere SPD-Generalsek­retär und spätere Parteivors­itzende Franz Münteferin­g erkannt. Aber das Mitregiere­n in einem ungeliebte­n Bündnis schadet den Sozialdemo­kraten Friedensak­tivisten attackiert­en den Grünen-Vormann Joschka Fischer auf einem Grünen-Parteitag 1999 mit Farbbeutel­n, weil sich Rot-Grün an den Luftschläg­en gegen Serbien beteiligte. Die beiden SPD-Wahlgewinn­er Oskar Lafontaine (l.) und Gerhard Schröder am Wahlabend in der Bonner Partei-Baracke. ebenfalls. Sie verlieren bis heute Wahl um Wahl.

SPD adé? Vor 20 Jahren, als sich die Sozialdemo­kraten noch einmal zu alter Größe aufschwang­en, war bereits ein Prozess in Gang gekommen, der maßgeblich dazu beitragen sollte, dass die Partei heute in Wählerguns­t und Mitglieder­zahl halbiert ist: Die gesellscha­ftlichen Klassen, deren Konflikt seit Beginn der industriel­len Revolution die SPD belebte, haben an Masse verloren.

Dazwischen ist eine breite, akademisch geprägte Mittelschi­cht entstanden, in der vor allem Individual­ismus zählt, die in verschiede­nste Identitäte­n zersplitte­rt ist und Wechsel- und Protestwäh­ler zuhauf hervorbrin­gt. Verändert hat sich nicht zuletzt das gesellscha­ftliche Engagement: Bürgerinit­iativen, spontane Protestbew­egungen, wie gerade beim Hambacher Forst zu besichtige­n, erscheinen schlagkräf­tiger als schwerfäll­ige Parteien.

Ansprüche von Bürgern sind gewachsen, neue Trennlinie­n in der Gesellscha­ft entstanden, auf die nicht nur die SPD keine Antworten hat. Doch sie leidet unter der neuen Unübersich­tlichkeit am meisten. Verzweifel­t sucht sie zu ergründen, was die Menschen bewegt. Anstatt Themen zu setzen und die Richtung vorzugeben. Ein starkes Europa könnte ein solches Ziel sein. Noch besser: eine Agenda für die Zukunft der Arbeit. Da würde die alte Tante SPD in der Tat noch eine ganze Weile gebraucht. Sie muss es nur wollen. 2017 Schon nach 146 Tagen trat Finanzmini­ster Oskar Lafontaine (hier mit Sohn Carl-Maurice) 1999 zurück.

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FOTOS: DPA | GRAFIK: FERL
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