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Ex-Pfleger gesteht Massenmord

100 Patienten soll Niels Högel ermordet haben. Eine unfassbare Zahl, die erst vor Gericht wirklich greifbar wird. Beim Prozessauf­takt wirkt der Angeklagte mitgenomme­n – und überrascht viele.

- VON IRENA GÜTTEL

OLDENBURG (dpa) Das Geständnis kommt unvermitte­lt, fast schon beiläufig. „Ja“, sagt der Angeklagte, als der Richter ihn fragt, ob die Vorwürfe größtentei­ls zutreffen. 100 Patienten soll der Ex-Krankenpfl­eger Niels Högel umgebracht haben. Damit könnte die größte Mordserie in der deutschen Nachkriegs­geschichte auf sein Konto gehen. Dass er am ersten Prozesstag so umfangreic­h aussagt und dabei viel Persönlich­es offenbart, kommt für viele Nebenkläge­r überrasche­nd. „Da saß heute der kleine, verletzlic­he Massenmörd­er“, sagt deren Sprecher Christian Marbach hinterher.

Rund 120 Stühle sind in dem Gerichtssa­al für die Familien der Opfer reserviert. Wegen des großen Andrangs hat das Landgerich­t Oldenburg die Verhandlun­g in eine Kongressha­lle verlegt. Viele von ihnen sitzen wie erstarrt auf ihren Plätzen, als der Angeklagte den Raum betritt. Manche haben wie zum Schutz die Arme vor der Brust verschränk­t, einige Frauen weinen. Sie sinken immer mehr in sich zusammen, als die Staatsanwä­ltin Daniela Schiereck-Bohlmann nach und nach jeden Mord einzeln erwähnt. Es ist eine Liste des Grauens.

Fast eineinhalb Stunden braucht Schiereck-Bohlmann, bis sie die Anklagesch­rift verlesen hat. Sie nennt jedes Opfer beim Namen, erwähnt Todesursac­he und Todeszeit. Das jüngste von ihnen war 34, das älteste 96 Jahre alt. Über Jahre soll Högel Patienten an den Kliniken Oldenburg und Delmenhors­t verschiede­ne Medikament­e in tödlicher Dosis gespritzt haben. Danach versuchte er, seine Opfer wiederzube­leben. Er habe dies getan, um Kollegen seine Reanimatio­nskünste zu beweisen und um seine Langeweile zu bekämpfen, sagt Schiereck-Bohlmann. Oft lagen zwischen den Taten nur wenige Tage, meist schlug er nachts zu, wenn wenig auf den Stationen los war. „Den Tod nahm er in allen Fällen zumindest billigend in Kauf.“

Lange haben die Familien der Opfer auf den Prozess gewartet. Es dauerte Jahre und zwei Gerichtsve­rfahren, bis das gesamte Ausmaß der mutmaßlich­en Mordserie ans Licht kam. „Die Stimmung ist sehr emotional: Wut, Trauer, sehr viel Anspannung, auf der anderen Seite Erleichter­ung, dass es endlich losgeht“, sagt Nebenklage-Sprecher Marbach. Selbst äußern wollen sich die Angehörige­n am ersten Prozesstag nicht, zu schmerzhaf­t ist dieser für sie. Für manche so sehr, dass sie gar nicht erst erschienen sind. Fast die Hälfte der für sie reserviert­en Stühle bleibt leer.

„Passen Sie wirklich auf sich auf und überforder­n Sie sich nicht“, sagt Richter Bührmann, als er sich zu Beginn des Prozesses direkt an die Nebenkläge­r wendet. Experten für Opferhilfe betreuen diese im Gerichtssa­al. In einem Raum, der abgeschirm­t von der Öffentlich­keit ist, können sie sich zurückzieh­en, wenn ihnen alles zu viel wird. Doch die meisten bleiben standhaft, folgen versteiner­t der Aussage des Angeklagte­n.

Sein Gesicht können sie auf zwei großen Leinwänden aus der Nähe betrachten: Högel sieht blass aus, unter den Augen hat er tiefe Schatten. Ruhig, sachlich und mit fester Stimme beantworte­t er die Fragen des Richters. Er erzählt, wie er behütet in Wilhelmsha­ven aufwuchs, dass er gerne Fußball spielte und keine Probleme in der Schule hatte. Seine Vorbilder waren sein Vater und seine Großmutter, beide selbst Krankenpfl­eger beziehungs­weise Krankensch­wester.

Die Probleme begannen erst, als er von Wilhelmsha­ven ans Klinikum Oldenburg wechselte. „Ich hätte eigentlich gar nicht nach Oldenburg gehen dürfen. Das weiß ich heute“, sagt der 41-Jährige. Der Stress und der Leistungsd­ruck auf der Intensivst­ation hätten ihn überforder­t – und das habe er mit Schmerzmit­teln zu dämpfen versucht. „Es fiel mit diesen Medikament­en einfach leichter.“Die Arbeit selbst habe ihn abstumpfen lassen. Die Patienten auf der Intensivst­ation seien an Maschinen und Schläuche angeschlos­sen gewesen. Es sei nur darum gegangen, ihre Werte stabil zu halten, sie zu pflegen oder waschen sei in der Hintergrun­d getreten. „Man entpersoni­fiziert sie.“

Zu den einzelnen Morden wollen die Richter Niels Högel erst am nächsten Prozesstag in drei Wochen befragen. Ob er dann auch so offen und ausführlic­h antwortet, wird sich zeigen. In der Vergangenh­eit hat er seine Verbrechen nur nach und nach zugegeben. So hatte er im letzten Prozess noch geleugnet, überhaupt Patienten in Oldenburg ermordet zu haben.

 ?? FOTO: JULIAN STRATENSCH­ULTE/DPA ?? Ex-Pfleger Niels Högel kommt in den Gerichtssa­al und verbirgt sein Gesicht vor den Fotografen. Der Prozess des Landgerich­tes findet wegen der zahlreiche­n Prozessbet­eiligten in den Weser-Ems-Hallen statt.
FOTO: JULIAN STRATENSCH­ULTE/DPA Ex-Pfleger Niels Högel kommt in den Gerichtssa­al und verbirgt sein Gesicht vor den Fotografen. Der Prozess des Landgerich­tes findet wegen der zahlreiche­n Prozessbet­eiligten in den Weser-Ems-Hallen statt.

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