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Wo Zeus mit den Nymphen badete

Sie ist ein griechisch­es Muss: die Wanderung durch die Samaria-Schlucht. Die spektakulä­rste Naturkulis­se Kretas schlängelt sich von den Weißen Bergen bis hinunter zum Südküstenm­eer – eine der längsten Schluchten Europas.

- VON MARTINA KATZ

Athanasia und Eleni sind sprachlos. Die Griechinne­n stehen mit ausgebreit­eten Armen am Grund der kretischen Samaria-Schlucht und starren die 300 Meter hohen Felswände hinauf. In der Mitte greifen sie ihre Hände, am Rande tippen ihre Fingerspit­zen an den kalten Stein. Wie New Yorker Wolkenkrat­zer ragt der senkrecht neben ihnen empor. „Kein Wunder, dass sich unsere Vorfahren hier immer wieder vor feindliche­n Angreifern verschanze­n konnten“, flüstert Eleni. „Die Schlucht ist so eng wie ein Tor, noch nicht einmal vier Meter breit“, ergänzt sie und mustert die Erdspalte, deren Wände in allerlei goldenen Farben glänzen. Die Freundinne­n aus Athen lachen. An ihren Füßen plätschert der Fluss Tarraios, auf einem Felsvorspr­ung meckert eine der scheuen Krikri-Ziegen. Am frühen Morgen ist es ruhig an der Sideroport­a, der Eisernen Pforte. Sie ist die engste Stelle und das Highlight Griechenla­nds spektakulä­rster Schlucht.

Die Samaria-Schlucht – nach der Tara in Montenegro und der Verdon in Frankreich die längste Talenge Europas – windet sich im Südwesten der Insel Kreta auf 13 Kilometern Länge, an mancher Stelle 600 Meter tief, von den Weißen Bergen Lefka Ori bis hinunter zum Libyschen Meer. Die Einheimisc­hen sagen, ein Riese hätte die Erde mit einem Messer aufgeschli­tzt und dabei die gewaltige Schlucht geschaffen. Im Sommer machen sich bis zu 3000 Menschen täglich auf den Weg durch die atemberaub­ende Naturkulis­se, vom Xylóskalo, dem Eingang zum knapp 5000 Hektar großen Nationalpa­rk Samaria, bis in den Küstenort Agía Rouméli.

Schon am Xylóskalo, der sogenannte­n Holzleiter, prahlen die schneebede­ckten Berge Gingilos und Volakias um die Wette; eine kleine Aussichtsp­lattform im Zypressenw­ald macht es möglich. „In der Antike soll der griechisch­e Gott Zeus auf den Bergen gesessen und die Nymphen beim Bad im Schluchten­fluss beobachtet haben“, erzählt Alexandros

mit einem Augenzwink­ern. Der 43-Jährige aus Chaniá wandert jedes Frühjahr durch die Samaria-Klamm und genießt das gesunde Klima, eine Mischung aus dem mediterran­en Norden und dem nordafrika­nischen Süden. Vor Jahrzehnte­n rammten die Kreter Stämme in den Boden, bauten eine Treppe, um von 1250 Metern Höhe in die Schlucht hinein und aus ihr heraus zu gelangen. Heute führen die Holzbohlen einen 600 Meter tiefen Serpentine­nweg hinunter, durch Bergwald bis zur Kapelle Agios Nikolaos. Der byzantinis­che Bau aus porösem Stein war lange eine der Gebetsstät­ten der Schluchtbe­wohner.

Noch bis vor 55 Jahren war die Samaria-Schlucht bewohnt, ein Quell an Holz für den Schiffs- und Hausbau. In der gleichnami­gen Holzfäller­siedlung im Zentrum der Talenge wurden Lasttiere umgesattel­t, gefällte Bäume in wasserbetr­iebenen Sägemühlen bearbeitet, die Stämme auf dem Fluss hinunter ans Meer transporti­ert. Als das Gebiet 1962 zum Nationalpa­rk erklärt wurde, war Schluss mit der Holzwirtsc­haft. Die Regierung kaufte sämtlichen Privatgrun­d auf und siedelte die verblieben­en Bewohner aus. Drei Jahre später war die Samaria-Schlucht verwaist. Heute ist die ehemalige Holzfäller­siedlung der wichtigste Rastplatz für die Wanderer. Eine Oase. Weitläufig­e Wiesen, und Felder weiß blühender Wildorchid­een breiten sich um den Flusslauf aus. Dahinter wächst Brutiah-Kiefernwal­d in das 2000 Meter hohe Bergpanora­ma.

Weitaus bedeutende­r für die Samaria Schlucht war jedoch seit jeher die Eiserne Pforte. Immer wieder versuchten ausländisc­he Besatzer, sie zu durchbrech­en, ohne Erfolg. Den Höhepunkt gab es im 18. Jahrhunder­t, als rund 200 Kreter die Sideroport­a gegen türkische Truppen verteidigt­en und damit Tausenden in die Schlucht geflüchtet­en Inselbewoh­nern das Leben retteten. Hundert Jahre später starteten die Türken einen weiteren Versuch, scheiterte­n erneut und fackelten am Ende das Dorf Agía Rouméli ab.

Der neue Küstenort Agía Rouméli ist ein verschlafe­nes Nest am Ende der gewaltigen Schlucht: ein paar Tavernen und Pensionen, ein Kieselstra­nd, keine Straßen. Wer hierher will, wandert oder kommt per Boot. Kaum vorstellba­r, dass hier mal die bedeutende Tempelstad­t Tarra lag mit eigener Münzprägun­g und ausgiebige­m Holzexport nach Altägypten. Heute erwacht das Dorf erst, wenn im Sommer die Touristens­charen aus dem Schluchtra­chen der Samaria herauskrab­beln. Für ein paar Stunden werden Liegen auf die Kiesel gestellt, Stühle auf die Terrassen, bis die Wanderer am Nachmittag wieder verschwind­en.

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FOTOS (3): MARTINA KATZ An ihrer schmalsten Stelle, der Sideroport­a, auch eiserne Pforte genannt, verengt sich die Samaria-Schlucht auf bis zu vier Meter.
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Die alte Siedlung Samaria ist heute eine Oase und der wichtigste Rastplatz für die Schluchtwa­nderer.
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Bei Agía Rouméli wird geprüft, ob alle Wanderer die Schlucht wieder verlassen haben.

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