Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
„Die EU braucht eine echte Regierung“
Der ehemalige Bundeskanzler über die Rolle Europas, seine Beziehungen zu Wladimir Putin und die Zukunft der SPD.
Konkurrenten haben wollen. Das kann ich nachvollziehen. Aber das muss ja nicht für Europa gelten. Zwischen Europa und Russland ist kein Atlantik, das Land ist unser unmittelbarer Nachbar. Und das bleibt Russland mit oder ohne einen Präsidenten Putin. Diese Fixierung auf Herrn Putin hilft nicht. Und: Ohne Russland gibt es keinen dauerhaften Frieden auf unserem Kontinent. Diese Erkenntnis war Grundpfeiler der Politik aller Bundeskanzler.
In unserem Interesse ist es, dass kein Land in Europa ein anderes angreift und völkerrechtswidrig annektiert.
SCHRÖDER Wenn Sie damit die Krim meinen: Glauben Sie ernsthaft, dass irgendein russischer Präsident dies in Zukunft wieder rückgängig machen wird? Diese Realität wird man eines Tages anerkennen müssen. Übrigens war die Krim, die bis dahin zu Russland gehörte, 1954 ein Geschenk des sowjetischen Machthabers Chruschtschow an die damals zum Sowjetreich gehörende Ukraine. Er dachte, dass der Sowjetkommunismus so alt werden würde wie die katholische Kirche. Das ist zum Glück ja nicht so eingetreten.
Man kann Geschenke nicht einfach zurückfordern.
SCHRÖDER Wenn das so einfach wäre in der internationalen Politik.
Was meinen Sie konkret mit einem Mehr an Europa?
SCHRÖDER Zum Beispiel das Reformpaket zur Stärkung der Eurozone, an dem Bundesfinanzminister Scholz arbeitet. Die europaweite Arbeitslosenversicherung ist ein kluger Vorschlag, der mit Frankreichs durchzusetzen wäre. Mit einem gemeinsamen Fonds würden die Arbeitslosenversicherungen in Krisenstaaten abgesichert, damit es zu keinen Kürzungen der Sozialleistungen kommt. Das ist keine Transferunion, da diese Kredite mit Rückzahlungsverpflichtungen verbunden sind, sondern das ist gelebte europäische Solidarität. Das ähnelt dem, was Deutschland im nationalen Maßstab in der Finanzkrise 2008 mit dem Kurzarbeitergeld gemacht hat. Es ist ein Schutzmechanismus für wirtschaftlich schwierige Zeiten. Es gibt nichts Gutes, außer man tut es. Man muss jetzt auch mal den Mut aufbringen und handeln.
Ein EU-Finanzminister wäre in Deutschland kaum vermittelbar.
SCHRÖDER Da bin ich nicht sicher. Es ist ein logischer Schritt, dass die Eurozone politisch mehr Gewicht erhält, zum Beispiel mit einem eigenen Budget und jemandem, der dafür verantwortlich ist. Auch der Ausbau der gemeinsamen Bankenunion ist richtig.
Die Eurozone als Kerneuropa?
SCHRÖDER Ja, genau. Dort ist die wirtschaftliche Vernetzung am größten. Dieses Kerneuropa muss dann offen sein für jene neuen Mitglieder, die wollen und können. Und als langfristiges Ziel muss es eine echte EU-Regierung geben, die vom Parlament kontrolliert wird. Das stand schon im Heidelberger Programm der SPD 1925. Die EU-Kommission wird noch zu sehr als technokratische Behörde wahrgenommen.
Frankreichs Präsident Macron hat Vorschläge dazu gemacht, die Reaktion aus Berlin war verhalten. SCHRÖDER Leider hat die Bundesregierung das Zeitfenster verpasst, nach der klugen Sorbonne-Rede des französischen Präsidenten, in der er der EU Reformen vorgeschlagen hat, sich mit ihm zusammenzusetzen und zu verabreden, was geht
und was nicht.
Das Gründungsland Italien wendet sich mit seinem Schuldenkurs doch ab von der EU.
SCHRÖDER Dieses seltsame Bündnis aus Lega Nord und 5-Sterne-Bewegung ist auch nicht meine Wunschregierung. Aber ein Konflikt mit Italien bringt doch nichts. Italien hatte auch schon vor der Einführung der Maastricht-Kriterien eine zu hohe Schuldenquote. Trotzdem wollten Helmut Kohl und Theo Waigel Italien bei der Gründung der Eurozone dabei haben. Es spricht nichts dagegen, Ländern mehr Zeit beim Schuldenabbau zu geben, wenn sie im Gegenzug innenpolitische Reformen umsetzen. So hat es Deutschland mit den Agenda-Reformen gemacht. Frankreich hat mehr Zeit bekommen. Und auch Griechenland hat mehr Zeit bekommen und unter großen Schmerzen Reformen umgesetzt. Warum jetzt an Italien ein Exempel statuieren? Das würde die Populisten dort nur noch stärker machen.
Wie sehen Sie die neue Spitzenkandidatin der SPD für Europa, Katarina Barley?
SCHRÖDER Eine Person mit europäischer Vita. Das ist eine gute Entscheidung der SPD.
Sie wurde sanft gedrängt. SCHRÖDER Na ja, gut. Es gibt heute kaum noch Politiker, die an den Zäunen rütteln und sagen: Ich will da rein. Es gibt eher Leute, die am Zaun rütteln und sagen: Ich will da raus.
Was erwarten Sie von der Bundeskanzlerin in der Europapolitik?
SCHRÖDER Ehrlich gesagt, ist sie kaum noch in der Lage für einen Aufbruch zu sorgen. Es ist auch nicht ihr Stil, mit Leidenschaft und Visionen eine Erneuerung der EU voranzutreiben, wenn nicht alles mit allen Partnern vorab bis ins letzte Detail abgestimmt ist. Die Kanzlerin hat ihre Verdienste, aber die Reform Europas traue ich ihr nicht mehr zu. Man weiß ja auch nicht, wie lange sie noch im Amt ist.
In Europa verlieren die großen Parteien reihenweise Wähler. Warum?
SCHRÖDER Die alten Bindungskräfte wirken nicht mehr, die Gesellschaften sind heterogener, die Interessen vielfältig, es gibt eine Stimmung gegen die etablierten Parteien. Die Migrationsfrage hat zudem viel Vertrauen gekostet bei den Regierungsparteien. Ergebnis: Die Union ist nur noch eine mittlere, die Unsicherheit der Menschen. Darauf muss eine Volkspartei reagieren.
Es heißt, eine Erneuerung geht nur in der Opposition.
SCHRÖDER Das stimmt doch nicht. Dann müsste der bayerische Landesverband der SPD nach 60 Jahren Opposition ja die Speerspitze des Erfolgs sein. Man kann gute Regierungsarbeit leisten und trotzdem mutige, inhaltliche Vorschläge machen, die nicht mit dem Koalitionspartner abgesprochen sind. Olaf Scholz hat das mit der europäischen Arbeitslosenversicherung ja gezeigt. Wenn die SPD wieder Vertrauen gewinnen will, muss sie gut regieren. Aber nicht still und unauffällig, so dass es keiner merkt. Sondern die Minister müssen das Amt auch nutzen, um Debatten anzustoßen. Warum hat die SPD nicht eine Antwort auf die Macron-Vorschläge, etwa aus dem Finanzministerium, gegeben?
Ist das Spitzenpersonal erneuerungsfähig? Olaf Scholz musste schon die Agenda-Reformen 2003 verteidigen und ist in der SPD bis heute eher geduldet.
SCHRÖDER Er hat die Reformen damals inhaltlich gestützt, weil er – wie ich – davon überzeugt war. Und die Reformen waren ja wirtschaftlich erfolgreich. Jetzt macht er als Finanzminister einen guten Job. Das kann er in der Öffentlichkeit ruhig etwas selbstbewusster darstellen.
Was trauen Sie Andrea Nahles zu?
SCHRÖDER Die SPD war immer dann erfolgreich, wenn sie nicht nur soziale, sondern auch wirtschaftliche Kompetenz hatte. Wenn es der SPD gelingt, hier wieder das Vertrauen der Bürger zu gewinnen, wird sie Erfolg haben. Wenn nicht, dann wird es auch für die Vorsitzende schwierig.
Es braucht also eine Erneuerung an der Spitze der Partei?
SCHRÖDER Der Mensch ist lernfähig. Ich war es in meinem Leben ja auch.
Sie meinen die SPD-Führung?
SCHRÖDER Wie gesagt: Der Mensch ist lernfähig. Das darf auch die SPD-Vorsitzende für sich in Anspruch nehmen.
Zum Abschluss: Wie fühlt es sich an, die fünfte Ehe?
SCHRÖDER Gut. Ich bin sehr glücklich.
MICHAEL BRÖCKER UND THOMAS THELEN FÜHRTEN DAS INTERVIEW.