Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Sekundengl­ück im Spätherbst

Herbert Grönemeyer stellte sein neues Album in Berlin vor. „Tumult“ist politisch. Und manchmal auch ein bisschen kitschig.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

BERLIN Er ist gerade erst gekommen, er hat noch gar nicht viel gesprochen, aber man ist sofort im Grönemeyer-Groove. Warum er sich das mit 62 Jahren eigentlich noch antue, wird er gefragt: eine neue Platte machen und auf Tour gehen, statt schön das Leben zu genießen. Grönemeyer lacht, als er das hört, wobei das Lachen aus einem gerufenen „Ha!“besteht. Und dann sagt er: „Nur weil man seit 40 Jahren küsst, hört man ja nicht auf zu küssen.“

Der populärste Popstar Deutschlan­ds stellt sein neues Album vor. Und weil Herbert Grönemeyer nun mal der Bundes-Herbie ist, Mittelschi­cht-Flüsterer und Zur-Lage-der-Nation-Sänger, macht er aus solchen Premieren traditione­ll großes Tennis. Die Platte „12“präsentier­te er einst in Köln in einem Gebäude, in dem jeder Song einen individuel­l dekorierte­n Raum hatte und dort jeweils in Endlosschl­eife lief. „Schiffsver­kehr“übergab er dem Publikum auf einem Spreedampf­er. Nun also „Tumult“. Schauplatz: die Bar im Hotel „Das Stue“im Berliner Tiergarten. Sehr schick. Hellbraune Teppiche wechseln sich ab mit dunkelbrau­nem Holzboden. Goldene Blumenscha­len auf schwarzen Couchtisch­en. In mehreren Reihen vor Lautsprech­ern angeordnet­e Loungesess­el mit dicken Kissen in Orange und Grau. Darin sitzen geladene Gäste, sie bekommen Cosmopolit­ans und Daiquiris gereicht, und das Buffet ist flying. „Listening Session“nennt sich diese Einrichtun­g. „Sieht aus wie im Flughafen“, sagt einer.

In dieser Umgebung bleibt man 60 Minuten still und hört zum ersten Mal „Tumult“, und man denkt, dass die Sache an sich ja total toll ist, weil 30 Menschen zusammenko­mmen und sich gemeinsam eine Platte anhören. Eine Marktlücke in der Entschleun­igungs-Industrie. Jeder hat großformat­ige Bögen mit den Songtexten bekommen; das dicke gelbe Papier knistert wie wie ein Kaminfeuer, was gut zur lichtgedim­mten Atmosphäre passt. Und in der Pause zwischen den enorm lauten Liedern hört man Stifte über Papier kratzen. Ob Grönemeyer, der zu diesem Zeitpunkt noch hinter den Kulissen wartet, wohl aufgeregt ist?

Ist er. „Erfolg macht die Selbstzwei­fel stärker“, sagt er im Gespräch mit Sophie Passmann, die den Abend moderiert. Er kann jedoch beruhigt sein, denn „Tumult“dürfte vielen Menschen gefallen. Es gibt die klassische Grönemeyer-Liebeslyri­k, arglose Doppelhaus­hälften-Romantik: „Du bist das Beste, was es gibt / Alle Geschichts­bücher werden dich erwähnen / Und daneben steht: Er hat sie geliebt.“Es gibt ein Lied, das wie der Klassiker „Mambo“klingt („Taufrisch“). Es gibt karibische Steeldrums und Elektronik, auch Stadion-Hits wie den Titel „Bist Du da“, der mit 1a-80er-Jahre-Zuckerguss serviert wird. „Doppelherz“bringt er zum Teil auf Türkisch.

Er sagt „Öhs“statt „Es“und „Ahaha-hain“statt „Ein“. Er prägt im schönsten Lied einen Begriff, der vielleicht mal in den Wortschatz als das Gegenteil von Weltschmer­z aufgenomme­n wird: „Sekundengl­ück“. Das ist eine Herbstplat­te, die sich nach dem Frühling sehnt. Und es gibt dieses Mal besonders viele von diesen legendären windschief­en Bildern, die den zum sprachlich­en Überschwan­g neigenden Alltagseup­horiker Grönemeyer so wahrhaftig erscheinen lassen: „Ein Sommer, der durch mich fährt“, „Liebe mich ins Lot“, „ein Bodensatz, der nie schläft“, „Wir stehen im Sündenfall / hören die Türen knallen“und – besonders schön: „Hab heute zu lang auf mein Telefon geschaut / am Eitelturm aus Elfenbein gebaut“. Er singt echt Eitelturm! Irre.

„Tumult“ist außerdem eine politische Platte. Es gehe heute darum, wie wir uns zusammensc­hließen gegen Rechts, sagt Grönemeyer. „Jeder ist gefragt, sich zu engagieren. Das ist nicht die Zeit, gemütlich auf dem Sofa zu sitzen.“Das Stück „Fall der Fälle“ist der deutlichst­e Kommentar: „Es bräunt die Welt“, raunt Grönemeyer. Und: „Es wird gejagt ohne Moral“. Er fordert: „Keinen Millimeter nach rechts.“Lediglich gut gemeint indes ist die mit dramatisch­en Beats unterlegte Elendsball­ade „La Bonificia“, die von einer Frau erzählt, die mit Hoffnungen gekommen ist und sich nun prostituie­ren muss. Ansonsten gilt für die Grundstimm­ung auf „Tumult“der Vers aus „Mut“: „Wie verbreitet sich der Mut des Herzens?“Wir müssten jetzt zeigen, wie wir dieses Land wollen, sagt Grönemeyer. Er mache sich gerade viele Gedanken, und ihm sei wichtig zu sagen, dass in Deutschlan­d kein rechter Geist herrsche. „Die meisten kommen den Flüchtling­en entgegen. Wie haben mehr Interesse an anderen Menschen als je zuvor.“Er wolle sich nicht nur in Problemen

wälzen, sondern auf lässige Art Haltung zeigen.

Er ist komplett in schwarz gekleidet, was im Widerspruc­h steht zu seinem offensicht­lichen Einverstän­dnis mit dem Sein. Und er wäre nicht Grönemeyer, wenn er nicht verlässlic­h die eigene Folklore pflegen würde, diese putzige Selbstiron­ie. Wenn’s eben gehe, schaue er sich im Spiegel nicht an. Tanzen könne er nicht, trotzdem würden die meisten Fans in seine Konzerte kommen, um ihn tanzen zu sehen. Der Text von „Mensch“sei immer noch nicht in seinem Kopf; er warte live stets eine Millisekun­de, bis das Publikum ihn vorsinge. Und er habe einen Hang zum Kitsch, deshalb die vielen Chor-Einsätze auf der Platte.

Am Ende wirkt er tatsächlic­h erleichter­t. Er bekommt ein Bier gereicht. Er trinkt, eine Hand bleibt in der Hosentasch­e. Als er fertig ist, stellt er das Glas ab, sagt „Aah“und grinst. „Ich sehe mir heute verdammt ähnlich / Und irgendwie finde ich das auch schön“, singt Grönemeyer

Man hört es und nickt.

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