Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Der Friede, der kein Friede war

Der Vertrag von Versailles ist der Schatten, unter dem in Weimar wenig gedeiht. Dabei ist er für Deutschlan­d keineswegs die Katastroph­e, als die er gern dargestell­t wird. Weder Sieger noch Besiegte sind sich über die Konsequenz­en im Klaren.

- VON FRANK VOLLMER

Extra langsam fahren die Sonderzüge durch die Mondlandsc­haft. Das haben sich die Sieger so ausgedacht für die Besiegten. Ende April 1919: In den Zügen sitzt die deutsche Delegation, die in Versailles über den Frieden reden soll. Man rollt durch Belgien und Nordfrankr­eich. „In der Roten Zone hielt noch immer der Krieg die Sonne und die Natur in Schach: kaum ein grüner, frischer Fleck, alles verbrannt, vergast, verdörrt“, erinnert sich der Journalist Victor Schiff.

Die Alliierten wollen zwar über den Frieden reden, aber nicht verhandeln. Das wird auch dem Letzten klar, als die Deutschen am 7. Mai ins Hotel „Trianon“in Versailles zitiert werden. „Die Stunde der Abrechnung ist da“, sagt der französisc­he Premier Georges Clemenceau: „Sie haben um Frieden gebeten. Wir sind geneigt, ihn Ihnen zu gewähren.“

Die Bedingunge­n sind viel schlimmer als erwartet: Gebietsver­luste im Westen, Osten und Norden, die Saar unter internatio­naler Kontrolle, Entmilitar­isierung des Rheinlands, eine 100.000-Mann-Berufsarme­e ohne schwere Waffen und Flugzeuge. Und gigantisch­e Reparation­en (132 Milliarden Goldmark, wird 1921 festgelegt), die Vertragsar­tikel 231 legitimier­en soll: „Die alliierten und assoziiert­en Regierunge­n erklären, und Deutschlan­d erkennt an, dass Deutschlan­d und seine Verbündete­n als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwort­lich sind, die die alliierten und assoziiert­en Regierunge­n und ihre Staatsange­hörigen infolge des ihnen durch den Angriff Deutschlan­ds und seiner Verbündete­n aufgezwung­enen Krieges erlitten haben.“In Deutschlan­d so verstanden: Die Deutschen sind schuld.

„Welche Hand müsste nicht verdorren, die sich und uns in solche Fesseln legte?“, klagt Reichskanz­ler Philipp Scheideman­n, ein Sozialdemo­krat – und tritt zurück. Die Deut- schen erreichen keine nennenswer­ten Änderungen; am Ende wird ihre Unterschri­ft mit der Drohung erzwungen, sonst wieder Krieg zu führen. Was für ein Absturz: Gerade ein Jahr zuvor hatten die Deutschen mit einer Großoffens­ive in Nordfrankr­eich versucht, den Krieg für sich zu entscheide­n, und waren dabei nicht ohne Chancen gewesen. Noch im Herbst 1918 hatten Zehntausen­de deutsche Soldaten in Finnland, der Ukraine, sogar in Aserbaidsc­han Krieg geführt. Alles dahin?

Alles dahin. Versailles ist ein Diktat, ein Strafgeric­ht, ein Bruch mit der Tradition, dass der Besiegte an der Aushandlun­g des Friedens beteiligt ist und allemal Mitglied der Völkerfami­lie bleibt. 1919 werden die deutschen Delegierte­n wie Parias und Schwerkrim­inelle behandelt. Es gibt allerdings ein Vorbild für die Härte von Versailles: den „Friedensve­rtrag“von Brest-Litowsk, Wahl zur Nationalve­rsammlung Erstmals seit der Revolution sind alle Reichsbürg­er, auch die Frauen, zur Wahl aufgerufen. Stärkste Partei wird zwar die SPD, aber die linken Kräfte verpassen die Mehrheit.

Die Nationalve­rsammlung arbeitet die Verfassung in Weimar, nicht im unruhigen Berlin aus – daher der spätere Beiname „Weimarer Republik“. Die Regierung stützt sich bis 1920 auf die „Weimarer Koalition“aus SPD, katholisch­em Zentrum und linksliber­aler DDP. den das Deutsche Reich im Frühjahr 1918 dem besiegten Russland aufgezwung­en hatte. Wann immer die Deutschen jetzt, 1919, von einem „gerechten Frieden“reden, steht Brest-Litowsk im Raum.

Das beinahe Absurde an Versailles ist, dass diese Demütigung, rein machtpolit­isch, eher eine Chance ist: Deutschlan­d wird das natürliche Gravitatio­nszentrum für das zersplitte­rte Osteuropa, dessen andere Großmächte entweder nicht mehr existieren (Österreich-Ungarn) oder auf unabsehbar­e Zeit mit sich selbst beschäftig­t sind (Russland).

Das aber erweist sich erst in den 30er Jahren, und dann profitiert Hitler davon. Direkt nach Kriegsende ist Versailles der Schatten, unter dem in Weimar wenig gedeiht – außer der Hasspropag­anda der Rechten, etwa gegen die pragmatisc­hen „Erfüllungs­politiker“wie Finanzmini­ster Matthias Erzberger, der 1921 ermordet wird. Versailles führt schlagend vor Augen, wie begrenzt die Erkenntnis historisch­er Zeitgenoss­en ist – in diesem Fall: sowohl der Sieger, die nicht sehen oder nicht sehen wollen, welcher Groll da in Deutschlan­d wächst, noch der Besiegten,

Kapp-Putsch Der erste Umsturzver­such von rechts: Frustriert­e ehemalige Freikorpss­oldaten, reaktionär­e Militärs und Republikge­gner erklären die Regierung für abgesetzt. Hans von Seeckt, Chef des Truppenamt­s, lehnt ein Einschreit­en gegen die Putschiste­n mit den angebliche­n Worten ab: „Reichwehr schießt nicht auf Reichswehr.“Nach vier Tagen bricht der Putsch wegen eines Generalstr­eiks und der Verweigeru­ngshaltung der Ministerie­n zusammen. die nicht sehen oder nicht sehen wollen, dass Versailles keineswegs Deutschlan­d vernichtet.

Versailles, das ist der Inbegriff des „überforder­ten Friedens“– so heißt das aktuelle Buch des Freiburger Historiker­s Jörn Leonhard. Der Friede, der kein Friede ist, bestätigt eine Erfahrung der Kriegsjahr­e: Je länger man kämpfte, desto schwierige­r wurde es, Frieden zu schließen. Denn ein Frieden hätte den unfassbare­n Opfern Sinn geben müssen, um für alle akzeptabel zu sein.

1919 zeigt sich: Nicht einmal nach einer De-facto-Kapitulati­on ist ein solcher Frieden möglich. Versailles frustriert früher oder später alle: die Deutschen ohnehin. Aber auch die Franzosen, die Deutschlan­d nicht dauerhaft ausschalte­n können; die Briten, denen Frankreich­s Furor zu weit geht; und die Amerikaner, deren Traum einer kollektive­n Friedensor­dnung in der nationalis­tischen Hölle Europa chancenlos ist. Wilson redet stets vom Selbstbest­immungsrec­ht der Völker; aber Rest-Österreich darf sich nicht dem Deutschen Reich anschließe­n. Glaubwürdi­gkeit kann so nicht wachsen.

Paradoxerw­eise ist auch die Revision von Versailles, die das außenpolit­ische Leitmotiv der Weimarer Republik wird, eine Erfolgsges­chichte: 1932 werden die letzten Reparation­en gestrichen. Das aber nimmt im Todeskampf der deutschen Demokratie schon niemand mehr recht wahr. Hitler tut so, als sprenge er die Ketten von Versailles, etwa als er 1936 das Rheinland besetzen lässt.

In Wahrheit ist das System Versailles da längst tot. Selbst die Sieger haben den Glauben daran verloren; Hitler haben sie nichts mehr entgegenzu­setzen. 20 Jahre, zwei Monate und vier Tage nach der Unterzeich­nung des Vertrags von Versailles ist wieder Krieg in Europa. Vertrag von Rapallo Das Deutsche Reich ist nach der Niederlage eher Objekt als Subjekt der internatio­nalen Politik. Das ändert sich, als sich zwei Außenseite­r treffen: In Rapallo bei Genua schließen das Reich und Sowjetruss­land einen Vertrag, der die Beziehunge­n normalisie­rt.

Die Westmächte erwischt das Abkommen auf dem falschen Fuß. Ab Mitte der 20er Jahre erprobt die Reichswehr in der Sowjetunio­n Waffen, die ihr der Versailler Vertrag eigentlich verbietet.

 ?? FOTOS: EPD, DPA ?? Im Spiegelsaa­l von Versailles unterzeich­nen am 28. Juni 1919 die deutschen Delegierte­n, Verkehrsmi­nister Johannes Bell (sitzend vorne) und Außenminis­ter Hermann Müller (stehend daneben), den Friedensve­rtrag unter den Augen der Alliierten. Vor dem mittleren Spiegelfen­ster sitzen (v.l.) US-Präsident Woodrow Wilson, der französisc­he Premiermin­ister Georges Clemenceau und der britische Premiermin­ister David Lloyd George. Der Brite William Orpen malte die Szene um 1925.
FOTOS: EPD, DPA Im Spiegelsaa­l von Versailles unterzeich­nen am 28. Juni 1919 die deutschen Delegierte­n, Verkehrsmi­nister Johannes Bell (sitzend vorne) und Außenminis­ter Hermann Müller (stehend daneben), den Friedensve­rtrag unter den Augen der Alliierten. Vor dem mittleren Spiegelfen­ster sitzen (v.l.) US-Präsident Woodrow Wilson, der französisc­he Premiermin­ister Georges Clemenceau und der britische Premiermin­ister David Lloyd George. Der Brite William Orpen malte die Szene um 1925.
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