Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Kirchner im Zwielicht
Die Bundeskunsthalle feiert den Expressionisten, distanziert sich aber von seinen Darstellungen nackter Kinder.
BONN Noch immer gilt Ernst Ludwig Kirchner vielen als der größte unter den Künstlern des Expressionismus. Bestärkt sehen sie sich darin von der Präsenz seines Lebenswerks in den bedeutendsten Museen der Welt und im Kabinettssaal des Bundeskanzleramts. Vor dem „Sonntag der Bergbauern“von 1923/24, einer figurenreichen, farbkräftigen Idylle aus der Davoser Zeit des Künstlers, haben sich schon ungezählte Politiker blitzen lassen, so viele sogar, dass Fachleute die Pigmente des Bildes unrettbar geschädigt sehen.
Die Kuratoren distanzieren sich, wollen aber auch nicht zensieren
Das allerdings ist das geringste Problem, das Kirchner (1880-1938) heute bereitet. Eine Ausstellung der Bundeskunsthalle in Bonn fächert sein Lebenswerk zwar unter dem romantischen Titel „Erträumte Reisen“auf, doch geht sie hart mit ihm ins Gericht, wo die Bilder Rassismus ausstrahlen, wo ein Titel gar das Wort „Neger“enthält, vor allem aber dort, wo Kirchner Mädchen in sexualisierten Posen in die Landschaft stellt.
Jahrzehntelang hat man die berühmten Zeichnungen und Gemälde mit den Kindermodellen Lina Franziska (Fränzi) Fehrmann und Marzella Albertine Sprentzel als Ausdruck eines ungebrochenen Verhältnisses zur Natur aufgefasst. Das änderte sich, als 2010 der heutige Direktor des Kunstpalasts Düsseldorf, Felix Krämer, im Frankfurter Städel-Museum eine vielbeachtete Kirchner-Retrospektive einrichtete und dabei alle wirklich anzüglichen Motive aussparte. Der Zeitschrift „Art“antwortete er damals auf die Frage, ob auf Kirchners Darstellung von Mädchen der Begriff „Kindesmissbrauch“zutreffe: „Absolut. Das war Missbrauch! Vielleicht kein körperlicher, das kann ich nicht belegen, obwohl es dafür Indikatoren gibt. Aber Kinder mit gespreizten Beinen zu zeichnen oder sie überhaupt in diesen Zusammenhang zu bringen, das ist nach heutigen Definitionen eindeutig als Missbrauch zu bewerten. Fränzi war acht Jahre alt, als sie Brücke-Modell wurde.“
Zumindest mit gespreizten Beinen ist Fränzi auch in der Bonner Ausstellung nicht zu sehen. Die Schau distanziert sich von der Vorliebe der Brücke-Künstler für das Motiv „kindlicher Akt“, will aber auch nicht als Zensor tätig werden. Daher erläutert sie auf ihren Schrifttafeln viel, auf dass die Besucher nicht als reine Kunstgenießer durch die Säle flanieren.
Im Foyer der Schau empfängt die Besucher das wandfüllende, monumentale Akt-Triptychon „Badende Frauen“aus der Zeit zwischen 1915 und 1925, ein Bekenntnis zur damaligen Lebensreform-Bewegung, die eine Rückkehr zur Natur ausrief: Freikörperkultur, befreite Sexualität, Bogenschießen und Bumerang-Werfen.
Unter den Akten, die im Verlauf des Rundgangs folgen, fallen immer wieder dunkelhäutige Männer auf. Die deutschen Kolonien beflügelten das Interesse der Expressionisten an exotischer Kunst. Modelle, die sichtlich nicht aus Europa stammten, bereicherten aus ihrer Sicht ihren Schatz an Motiven und wiesen vermeintlich einen Weg zurück zur Natur.
Blendet man dann den politisch-gesellschaftlichen Zusammenhang aus, so ist Ernst Ludwig Kirchner damit gerade in den frühen Jahren große Kunst gelungen. In dem Gemälde „Fehmarndüne mit Badenden unter Japanschirmen“zum Beispiel harmoniert das Ocker des Strandes mit der Farbe der nackten Frauenkörper, die in bizarren Konturen den Vordergrund besetzen, während hinten die Natur das stille Geschehen grün und blau überwölbt.
Aus dem schwarz-weißen grafischen Werk des Künstlers tritt das Kompositionsprinzip noch stärker hervor: Linien, die das zentrale Motiv spielerisch umreißen. Die Zeichnungen und Holzschnitte zählen zu den Höhepunkten der Ausstellung.
Problematisch dagegen sind alle Bilder, in denen Dunkelhäutige ihren nackten Körper vor oft roter Kulisse zur Schau stellen. Kirchner nutzte diese Exotik, um die Betrachter mit Farben zu bezaubern, doch von der Herkunft seiner Modelle
wusste er nichts aus eigener Erfahrung. Anders als die übrigen Künstler der „Brücke“zog er nicht in die Welt hinaus. Kirchner blieb zeitlebens in Deutschland und der Schweiz. Alles, was er von Afrika wusste, hatte er sich im Dresdner Völkerkundemuseum angeeignet. Ein Saal der Ausstellung gibt davon einen Eindruck.
Den Anfangsjahren in Dresden folgte die Umsiedlung ins weltstädtische Berlin mit seinem Schatz an Halbwelt-Motiven. Den Sommer verbrachte Kirchner jeweils auf Fehmarn, bis er 1915 als Rekrut zur Teilnahme am Ersten Weltkrieg eingezogen und nach einem Nervenzusammenbruck beurlaubt wurde. Sein Bild „Selbstbildnis als Soldat“spiegelt seine Verzweiflung, ein Sanatoriumsaufenthalt führte ihn 1917 für immer in die Schweiz, nach Davos.
Nach wie vor auf der Suche nach einem unverfälschtem Leben, brachte er dort eine Fülle von Bildern hervor, welche die Berglandschaft, ihre Bewohner und ihre Volkskunst feiern. Kaum ein Gemälde, das nicht von violetten Wegen, Gipfeln und Figuren durchzogen ist. Kirchners späte Bilder leuchten wie die Bergwelt im Kanzleramt, doch Innerlichkeit und Zauber des Frühwerks sind dahin.
1937 verteufelten die Nationalsozialisten seine Kunst als „entartet“und zerstörten oder verkauften mehr als 600 seiner Werke. Ein Jahr später wählte er den Freitod – ein großer deutscher Künstler, dem gerecht zu werden heute schwerer fällt wie denn je.